Auch Religionen lernen

Die erste christliche Gemeinde in Jerusalem hat sich viel vorgenommen. Was Jesus gepredigt hat, wollen die Mitglieder der sogenannten Urgemeinde ins tägliche Leben umsetzen. Dazu gehört auch, dass unter ihnen niemand hungern soll. Die Armut können sie nicht abschaffen, aber existenzbedrohende Not soll es nicht geben.

Zwischenruf 29.1.2017 zum Nachhören:

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Die bedürftigsten Personen sind die Witwen. Die Apostel schauen also drauf, dass die verwitweten Frauen der Gemeinde täglich mit Essen versorgt werden. Das ist nur eine von vielen Aufgaben, die sie übernommen haben. Deshalb passieren immer wieder peinliche Fehler. Während die einheimischen Frauen gut versorgt werden, kommt es vor, dass die Witwen von Ausländern bei der Ausspeisung übersehen werden. Das regt die Gruppe der zugezogenen ausländischen Gemeindemitglieder auf. Es kommt zu Vorwürfen, vielleicht sogar zu Unterstellungen. Der Gemeinde droht eine Spaltung.

Christine Hubka
ist pensionierte evangelische Pfarrerin und Gefängnisseelsorgerin

Lernfähige Kirchen

Daraufhin beschließen die Apostel etwas, was wir heute wohl eine Strukturreform nennen würden. Sie ziehen sich von der Organisation der Ausspeisung zurück, um sich mehr ihrer Kernkompetenz, dem Predigen zu widmen. Die Gemeinde ernennt sieben geeignete Leute, führt sie in ihr Amt ein und gibt ihnen den klaren Auftrag, sowohl die inländischen als auch die ausländischen Witwen zu versorgen. Das Problem ist durch die Bestellung dieser Diakone bestens gelöst.

Die Apostelgeschichte erzählt mit dieser kleinen Episode etwas, was von da an die Geschichte der Kirche immer begleitet hat: Sie hat immer wieder dazu gelernt. Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich Kirchen und Religionen als lernfähig erwiesen.

Jahrelanger Lernprozess

Die evangelischen Kirchen haben in den frühen 1980er Jahren gelernt, Frauen gleichberechtigt zum Pfarramt zuzulassen. Ein schmerzhafter Lernprozess war es, verstaubte Rollenvorstellungen zu entsorgen. Das Wesen der ganzen Kirche und der Gemeinden hat sich verändert. Die evangelischen Kirchen haben sich völlig neu orientiert in der Frage, wer bei der Feier des Abendmahls teilnehmen darf. Nicht mehr nur Konfirmierte, sondern alle Getauften, auch ganz junge Kinder, und Menschen einer anderen Konfession empfangen heute Brot und Wein. Ein jahrelanger Lernprozess war nötig, um lieb gewordene theologische Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und vom Evangelium her zu bewerten.

Zwischenruf
Sonntag, 29.1.2017, 6.55 Uhr, Ö1

Auch das Verhältnis zum Judentum ist ganz neu bestimmt worden. Die Kirchen haben erkannt, dass Mission unter Juden dem Respekt vor dem Judentum widerspricht. Im Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche haben die evangelischen Kirchen gelernt, sich selber nicht durch Abgrenzung, durch die Negation des Katholischen, zu definieren. Beide Kirchen gehen heute viel unverkrampfter miteinander um als noch in den Tagen meiner Kindheit. Das alles sind nur wenige Beispiele von einer sehr langen Liste.

Damit in Wien kein Mensch erfriert

Die Tage der eisigen Kälte in Wien haben nun einen weiteren Lernschritt angestoßen. Gemeinsam haben katholische, evangelische und orthodoxe Pfarrgemeinden und ein türkisch-islamischer Verein ihre Türen für obdachlose Menschen geöffnet. Gemeinsam organisieren sie die Verpflegung. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass in dieser Stadt kein Mensch erfriert.

Es klingt verrückt: Aber in der eisigen Kälte sind die Berührungsängste zwischen diesen unterschiedlichen religiösen Gruppen geschmolzen. Jede für sich hat sich auf den Grundauftrag ihres Glaubens besonnen, der ganz einfach lautet: Sorgt füreinander. Schaut drauf, dass niemand in existenzbedrohende Not gerät. Und selbstverständlich wurde niemand gefragt, zu welcher Religion gehörst du, bevor er oder sie in die warme Stube einer der christlichen Gemeinden oder des islamischen Vereins eintreten durfte. Denn Kälte und Hunger tun gleich weh, egal ob jemand Muslim oder Christ ist.

So muss die Kirche, ganz gleich welcher Konfession, täglich dazu lernen, wenn sie sich selber treu bleiben will. Ja, sie macht auch immer wieder schwere Fehler. Ja, es gibt auch Rückschritte. Aber zum Wesen der Kirche und jeder ernstzunehmenden Religion gehört es, dass sie lernfähig bleibt.