Neuer liberaler Rabbi für Wien: „Offen für alle“

Lior Bar-Ami übernimmt das Amt des Gemeinderabbiners in der einzigen progressiven jüdischen Gemeinde Österreichs, Or Chadasch (Neues Licht). Am Sonntag wird er in der Or-Chadasch-Synagoge in Wien inauguriert.

Der 31-jährige gebürtige Deutsche löst den langjährigen Gemeinderabbiner Walter Rothschild ab. Die Offenheit des liberalen Judentums ist das, was ihn anspricht. „Das liberale Judentum ist offen für alle. Egal welchen Geschlechts, ob Mann oder Frau, alle sind gleichberechtigt in unseren Gemeinden“, sagte Lior Bar-Ami im Gespräch mit religion.ORF.at. Egal mit welchem kulturellen Hintergrund, aus welcher Tradition, „alle sind herzlich willkommen bei uns.“

Or Chadasch-Rabbiner Lior Bar-Ami

ORF/Nina Goldmann

Rabbiner Lior Bar-Ami

Das gleichberechtigte Verhältnis von Frauen und Männern bestimmt ein wesentliches Merkmal des liberalen, progressiven oder Reformjudentums. Im Unterschied zum orthodoxen Judentum beten hier Frauen und Männer gemeinsam, Frauen leiten Gottesdienste und werden zur Thora gebeten. Der Gemeinderabbiner wird vom Vorstand bestellt, in dem ebenfalls Frauen Platz finden.

Judentum im 21. Jahrhundert

„Das 21. Jahrhundert macht vor den Türen unserer Synagogen nicht halt, sondern wir nehmen es mit hinein“, sagt der „Teilzeitrabbiner“, der alle zwei Wochen zwischen Wien und Toulouse (Frankreich) pendelt, da er dort ebenfalls eine liberale jüdische Gemeinde betreut. „Wir interpretieren unsere Tradition und Quellen, unsere Thora und Halacha, mit den Augen des 21. Jahrhunderts. Wir sind offen für Menschen aller sexueller Orientierungen und aller Geschlechtsidentitäten.“ Diese Offenheit finde sich in den liberalen Synagogen, zugleich mit dem Leben der jüdischen Tradition im 21. Jahrhundert, wieder.

Die 1990 gegründete Gemeinde Or Chadasch ist eine kleine, wachsende Gemeinde, in der derzeit etwa 80 „Units“, also Einheiten (Familien) als volle Mitglieder vermerkt sind. Zahlreiche Freunde und Interessierte würden ebenfalls regelmäßig zu den Gottesdiensten kommen und die Gemeinde auch finanziell unterstützen, sagte Theodor Much, der Präsident von Or Chadasch gegenüber religion.ORF.at.

Keine liberale Tradition in Österreich

Im Gegensatz zu Deutschland oder Amerika hat in Österreich das liberale Judentum keine lange Tradition. „In Österreich gibt es keine liberale Tradition - weder politisch noch religiös“, so Much. Vor dem Zweiten Weltkrieg habe es 200.000 Juden in Wien gegeben, aber keinen öffentlichen liberalen Gottesdienst. Es sei nicht einfach gewesen, eine liberale Tradition in Österreich zu etablieren. Diese stellt doch mit weltweit zwei Millionen Mitgliedern die größte jüdisch-religiöse Gemeinschaft dar.

Liberales Judentum

Im Gegensatz zu orthodoxen jüdischen Gemeinden beten in liberalen Gemeinden Frauen und Männer gemeinsam. Frauen und Männer geben einander die Hand und liberal-jüdische Frauen tragen keine Perücken (Scheitl). Zudem wird Wert auf interkonfessionellen und interreligiösen Dialog gelegt.

Erst 2004 konnte die erste liberale Synagoge eingeweiht werden, bis dahin fanden die Gottesdienste und Feiern in gemieteten Räumen statt. In Deutschland, das als „Wiege“ des Reformjudentums gilt, und in den USA entstand das Reformjudentum bereits ab Beginn des 19. Jahrhunderts. Weitere Länder folgten. Damals wurden die ersten Schulen gegründet, wo neben dem Talmud-Studium auch naturwissenschaftliche Fächer, Sprachen und Kulturgeschichte unterrichtet wurden.

Mit dem „Rabbinervirus angesteckt“

Eigentlich wollte Lior Bar-Ami Lehrer werden. Dann aber habe er sich mit dem „Rabbinervirus angesteckt“. Tatsächlich sei es ansteckend gewesen, erzählte er lachend. Besonders wichtig und interessant sind für ihn am Rabbi-Dasein das Lehren und die Seelsorge. Wobei er betont, das Lehren sei immer eine dialogische Sache. Er könne als Gelehrter zwar wissen, wie etwas theoretisch richtig ist, „aber die Realität ist im wahren Leben und nicht in meinem kleinen Kämmerlein“.

Er lerne viel von den Begegnungen mit Menschen in verschiedenen Lebenssituationen. Hochzeit, Geburt, Bar- und Bat-Mizwah zählen zu den schönen Ereignissen, gehen aber bis zu den schweren Stunden von Krankheit und Tod. Er möchte den Menschen ein Yedid Nefesh, ein Seelenfreund, sein.

Momentan ist Rabbi Bar-Ami sehr mit der Betreuung seiner Gemeinden beschäftigt und ausgelastet. In Berlin hatte er sich aber auch im interreligiösen Dialog beosnders mit Christen und Muslimen engagiert und ist nach wie vor offen dafür. „Das offene Miteinander ist das einzige Mittel gegen die Vorurteile und die Angst, die oftmals herrschen und gegen die Scheu, einander zu begegnen.“

Das Menschsein feiern

Dem weltweit beobachtbaren, wachsenden Antisemitismus, aber auch der Xenophobie, Homophobie, Islamophobie, könne man nur mit offenem Dialog begegnen. „Es gibt viele Phobien und die Leute wissen gar nicht, wovor sie sich fürchten, weil sie oftmals ihr Gegenüber nicht kennen.“ Bestes Mittel dagegen: zeigen, dass wir alle Menschen sind - und das feiern.

Liberale jüdische Synagogen wie Or Chadasch stehen auch Besuchern und Interessierten offen. Ebenso lassen sie Konversionen zu, die allerdings von Orthodoxen nicht anerkannt werden. Für die Zukunft der Gemeinde wünscht sich Bar-Ami jedenfalls, dass sie wächst und dass noch mehr Menschen das liberale Judentum und Or Chadasch entdecken, betont er.

Was das Frauenrabbinat angeht, so gibt es Universitäten, wo mehr Frauen eine Rabbinerinnenausbildung machen als Männer, an anderen Kollegs ist das Verhältnis ausgewogen, erklärt Bar-Ami. So gibt es etwa in Israel und den USA mehr Frauen als Männer, die eine Rabbinerausbildung machen. Am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, wo er selbst studiert hat, hält es sich die Waage. In Österreich gibt es bisher keine Möglichkeit zu einer liberalen Rabbinerausbildung.

Nina Goldmann, religion.ORF.at

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