Lateinamerika und der Aufschwung der Freikirchen

Anteilsmäßig leben in Mittel- und Südamerika nach wie vor die meisten Katholiken weltweit. Doch Jahr für Jahr treten Tausende Lateinamerikaner zu evangelikalen Freikirchen über.

Etwa 15 Männer, Frauen und Kinder haben sich an einem Samstagabend in einem der Armenviertel von Managua (Nicaragua) in einem staubigen Garten auf Plastiksesseln eingefunden. „Halleluja“, ruft Marlon Gomez ins Mikrofon, er ist der Pastor der Freikirchengemeinde „Nueva Jerusalen“. Die Gläubigen antworten lautstark, heben ihre Hände, und der Keyboarder stimmt das Eröffnungslied des Gottesdienstes an.

Etwa 15 Gläubige bei einem Gottesdienst in einer "Gartenkirche" in Lateinamerika

Klaus Brunner

Etwa 15 Gläubige in der Gartenkirche „Nueva Jerusalen“ in Managua

Einige Straßen weiter teilen sich Jugendliche beim Hahnenkampf eine Flasche billigen Zuckerrohrschnaps - verlorene „Schafe“, die es zu bekehren gilt. Die Inbrunst des Gesangs zählt mehr als die richtige Tonhöhe, und die nächsten zwei Stunden wird die Umgebung per Lautsprecher mit der christlichen Botschaft beschallt.

Bibelbezug im Alltag

„Nueva Jerusalen“ ist eine von unzähligen Freikirchen in Lateinamerika, die teils nur einige hundert, teils Hunderttausende Gläubige anziehen. Mit charismatischen Predigern und lebendigen Gottesdiensten werben sie um Anhänger. Besonders stark verbreitet ist das Phänomen in Brasilien und Mittelamerika. Bibelzitate weisen den Weg durch den Alltag, und bei der Messe wird getanzt, geschrien und geweint.

Freikirchen in Lateinamerika

Klaus Brunner

Garagenkirche in El Salvador: Manche Bewegungen beginnen in Garagen und füllen später ganze Fußballstadien

Bei manchen Gruppen sind auch Wunderheilung und Teufelsaustreibungen üblich. „Sie gehen zu den Leuten in die Armenviertel und entlegenen Gemeinden. Die katholische Kirche ist hingegen viel zentralisierter“, sagt die Journalistin und Theologin Maria Lopez Vigil aus Nicaragua. Der Erfolg der Freikirchen beschränkt sich aber nicht auf die arme Bevölkerung. Oft ist es gerade die Mittelschicht, die sich von ihren Botschaften angesprochen fühlt. Glaubensgemeinschaften wie „Hosanna“ und die „Fraternidad Cristiana“ füllen riesige Hallen und betreiben eigene Radio- und Fernsehsender.

In den lateinamerikanischen Ländern bekennen sich etwa 70 Prozent der rund 500 Millionen Einwohner zum Katholizismus, in Brasilien mit mehr als 200 Millionen Einwohnern sind es nur noch 64 Prozent. Dort lag der Anteil der Katholiken 1961 noch bei 91 Prozent. Freikirchen und evangelikale Strömungen verzeichnen hingegen einen rasanten Aufschwung und vereinen insgesamt mittlerweile etwa 20 Prozent der Bevölkerung auf sich. In Brasilien gibt es heute rund 35.000 Freikirchen.

Massenmesse beim Jugendkongress 2010 in Mexiko

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Massengottesdienste in Fußballstadien sind - wie hier in Mexiko 2010 - keine Seltenheit

Bibeltreu und konservativ

Die meisten Freikirchen berufen sich auf die Bibel als oberste Autorität, doch in ihrer theologischen Ausrichtung unterscheiden sie sich zum Teil erheblich. Gruppen von Baptisten, Pfingstbewegung und Adventisten, die sich wiederum in Denominationen teilen, machen den Status quo sehr unübersichtlich. Was sie eint, ist eine stramm konservative Haltung gegenüber außerehelichem Geschlechtsverkehr, Abtreibung und Homosexualität.

Freikirchen

Zu den Freikirchen zählen unter anderem Pfingstgemeinden, evangelikale Gruppen, Erweckungs- und charismatische Bewegungen.

Die Verehrung der Jungfrau Maria und der Heiligenkult der katholischen Kirche werden strikt abgelehnt, ebenso die Kindstaufe. Andere Religionen wie der Islam und der Buddhismus gelten als Irrwege. Eine Ausnahme bildet das Judentum, das bei manchen Glaubensgemeinschaften einen Sonderstatus genießt.

Freikirchen in Lateinamerika

Klaus Brunner

Radio-Jesus-Station 2011

Für ein besseres Diesseits

Der Fokus der evangelikalen Ethik liegt auf dem Lebensstil ihrer Mitglieder. Tanzen außerhalb des Gottesdienstes, Alkohol und Glücksspiel sind tabu. Die Mitglieder der Pfingstgemeinde etwa sehen den eigenen Körper als Heiligtum, und nicht wenige ernähren sich strikt vegetarisch. In den Armenvierteln sind Alkoholismus, Drogensucht und Gewalt weit verbreitet. Der Sprung ins andere Extrem scheint der einzige Ausweg zu sein.

Freikirchen in Lateinamerika

Klaus Brunner

Radio-Jesus-Station 2017: Aus der kleinen Hütte ist ein zweistöckiges Haus geworden

In wirtschaftlichen Fragen positionieren sich viele evangelikale Kirchen in Lateinamerika eher links und versprechen soziale Gerechtigkeit mit Gottes Hilfe. Andere stellen in protestantischer Tradition den individuellen ökonomischen Erfolg in Zusammenhang mit Fleiß und einer religiösen Lebensführung. Die Gläubigen liefern zehn Prozent ihres Einkommens an die Kirche ab, nicht selten vor den Augen der Gemeinschaft. Die Pastoren finden so ihr Auskommen, und aus kleinen Gargagenkirchen entstehen im Laufe der Zeit richtige Tempelgebäude.

Intensive Missionierung

Guatemala gilt mit über 40 Prozent der Bevölkerung heute als das Land mit dem höchsten Anteil an Evangelikalen in Lateinamerika. Bis Mitte der 1970er Jahre betrug der Anteil der Protestanten an der Bevölkerung nur etwa zwei Prozent. Nach einem verheerenden Erdbeben im Jahr 1976 kamen mit den internationalen Hilfslieferungen auch zahlreiche Missionare aus den USA ins Land. In Mittelamerika treten bis heute Missionsgruppen aus dem Ausland auf.

Freikirchen in Lateinamerika

Klaus Brunner

Viele Gemeinden treffen sich in Garagenkirchen

Sobald die einheimischen Pastoren ausgebildet sind, beginnt die Überzeugungsarbeit an Ort und Stelle. Oft kommt bei den Anfangstreffen reichlich Essen auf den Tisch, und die Nachbarn, Freunde und Verwandten werden an die neue Religion herangeführt. Julio Alberto Reyes aus dem Norden Guatemalas arbeitet für eine österreichische NGO: „Ein Teil meiner Familie ist katholisch, der andere evangelisch. Wir versuchen das so harmonisch wie möglich zu regeln. In manchen Familien ist das aber viel radikaler, da kommt es sogar zum Bruch.“

Das Erbe von Johannes Paul II.

Lopez Vigil sieht einen weiteren Grund für den Siegeszug der Freikirchen: „Papst Johannes Paul II. war wegen seiner Biografie stark antisozialistisch eingestellt. Er hatte kein Verständnis für den Klassenkampf und die Befreiungstheologie, bei Benedikt war es nicht anders. Jahrzehntelang wurde alles Progressive unterdrückt. Auch wenn die katholische Kirche hier seit jeher Almosen an die Armen verteilt, steht sie dennoch der privilegierten Oberschicht nahe. In der sozialen Frage hat sie versagt, und die Freikirchen haben ihre Chance genutzt.“

Für die Theologin und Katholikin kommt es nun reichlich spät, dass mit Franziskus ein Papst im Amt ist, der mit der lateinamerikanischen Realität vertraut ist. „Die Freikirchen bieten eine vermeintliche Lebenshilfe und sie haben einfache Botschaften. Halte dich von den Lastern fern, vertraue auf Gott, und alles wird gut! Dagegen sieht die katholische Kirche ziemlich alt aus.“

Klaus Brunner, für religion.ORF.at