Suchet der Stadt Bestes!

„Ich bin so viel auf Reisen, immer in diesen Kriegs- und Krisengebieten. Und wissen Sie, was die Menschen, egal wo, immer zuerst sagen, wenn ich sie nach ihrem sehnlichsten Wunsch frage: Nicht Freiheit, nicht Wohlstand, schon gar nicht Gottes Reich auf Erden. Nein, sie wünschen sich einfach nur ein normales Leben."

Zwischenruf 30.10.2016 zum Nachhören:

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Das sagt der große deutsche Schriftsteller Navid Kermani in einem Interview in der ZEIT zu seinem neuesten Roman „Sozusagen Paris“.

Michael Chalupka
ist Direktor der Diakonie Österreich

Einfach nur ein normales Leben,

das ist auch der Wunsch den die, die aus einem barbarischen Krieg nach einer lebensgefährlichen Flucht hier bei uns in Österreich angekommen sind, haben. Nichts war mehr normal in ihrem Leben, nichts so wie früher. Das Haus zerstört, die Arbeit verloren, der Hunger ein täglicher Gast. Normalität ist ein hoher Wert, den gibt man nicht auf aus Jux und Tollerei und Abenteuerlust, weil über dem Meer ein angenehmeres Leben winkt.

Doch was sie erwartet, ist nicht die Normalität. Familien, auf der Flucht zerrissen, warten oft Jahre, bis sie sich wieder in die Arme schließen können. Es kann dauern, bis man im Asylverfahren zum Erstinterview eingeladen wird. Fast alle machen sich Sorgen, ob ihr Akt verloren gegangen ist. So wenig Vertrauen ist übrig – auch in die alltägliche Normalität der Bürokratie.

Zwischenruf
Sonntag, 30.10.2016, 6.55 Uhr, Ö1

„An den Flüssen von Babel...“

Diese Erfahrung ist nicht neu. Solche Erfahrungen haben auch die Israeliten gemacht als sie in Babylon im Exil, in der Fremde leben mussten. „An den Flüssen von Babel saßen wir und weinten“, heißt es in Psalm 137. Der Prophet Jeremia hat aber auch ihnen gesagt, dass an der Integration, so steinig sie sein mag, kein Weg vorbei führt. „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“

Es wäre wohl hilfreich für den Fortgang der sogenannten Integrationsdebatte, wenn wir uns immer wieder diesen Wunsch aller, „einfach nur ein normales Leben“ zu führen, wie ihn Navid Kermani hört, vor Augen führen würden. Denn was ein normales Leben ist, wissen wir alle. Und es unterscheidet uns nicht. In Sicherheit leben, im Kreis unserer Liebsten, den Kindern eine Zukunft bieten, von der eignen Hände Arbeit leben können und Freundschaften pflegen – ein Haus bauen, einen Garten pflanzen, Kinder großziehen, wer möchte das nicht?

Normal in Österreich

Zur Normalität gehört hierzulande auch, dass sie in verschiedensten Formen gelebt werden kann. In Österreich ist es ganz normal katholisch zu sein, evangelisch, jüdisch, muslimisch oder gar nicht an Gott zu glauben. Ebenso ist es normal, verheiratet zu sein, oder als Single zu leben oder in einer Partnerschaft. Normalität wird in der Pluralität gelebt, auch wenn so manch einer gerade versucht, seine Normalität zur Norm zu erheben, die er anderen aufzwingen will. Normal ist es auch, in einem Land zu leben, in dem einer auf den anderen schaut und nicht auf ihn herabschaut. Und normal ist es für uns in all unserer Vielfalt in einem sicheren Land zu leben, auch wenn irrlichternde Gemüter vom Bürgerkrieg fantasieren. Doch die eine Norm, die für alle gelten muss, ist eben nicht normal in Österreich. Und das ist gut so.

Die Menschen, die in den letzten Monaten zu uns gekommen sind, sie bleiben hier. Auch sie wünschen sich nichts mehr als ein normales Leben. Integration ist also alternativlos. Keiner kann die Integration verhindern. Doch man kann sie verlangsamen, im schlimmsten Fall um viele Jahre: durch bürokratische Hürden, durch Ausschluss aus der Gesellschaft, durch Misstrauen und Unterstellungen, vor allem durch die Unterstellung, Menschen möchten gar kein normales Leben, sie müssten gezwungen werden, Deutsch zu lernen oder zu arbeiten.

Aber das ist nicht normal. Normal ist, dass der Mensch einer ist, der sein Leben gestalten will, für die Seinen Sorgen und etwas beitragen möchte zum Leben der Gemeinschaft. Das wissen wir aus eigener Erfahrung, denn das wollen wir doch auch. Und was wir für uns wünschen, das sollten wir auch den anderen wünschen – „Suchet der Stadt Bestes, wenn’s ihr wohl geht, so geht’s auch euch wohl.“ Ein Satz, der verbindet.

Buchhinweis:

Navid Kermani, „Sozusagen Paris“, Verlag Carl Hanser