Heilende Wirkung

Der kleine Heinz stand draußen. Er hatte nicht gewagt zu klopfen, doch hörte sie sein Husten und öffnete die Tür. „Hast Du ein Bilderbuch?“, war seine schüchterne Frage.

Zwischenruf 13.11.2016 zum Nachhören:

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„Er berichtete stockend, dass er ein solches im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen habe und dass er gerne wüsste, wie es innen aussähe. Frau Silberbauer kramte ein altes Bilderbuch, bekritzelt, mit ausgerissenen Ecken, aus einer Kiste hervor. Sie sah und hörte das Entzücken des Kindes und staunte über seine vielen Fragen.“ So schildert die Sozialarbeiterin Rosa Dworschak eine Szene in ihrer Erzählung „Dorfgeschichten in der Großstadt“. Das Dorf, von dem die Rede ist, liegt in Ottakring, die Stadt ist Wien, die Verwalterin der Siedlung heißt Silberbauer, wir schreiben das Jahr 1930. Heinz machte von da an seine Aufgaben bei Frau Silberbauer und kam voran in seinen ersten Schreibversuchen und Zeichnungen.

Martin Schenk
ist Psychologe und Sozialexperte der Diakonie Österreich

Interesse für die anderen

Rosa Dworschak hat über ihre Arbeit eine Erzählung geschrieben, die Jahrzehnte als Manuskript in der Schublade gelegen ist. Erst jetzt wurde die Geschichte veröffentlicht. In dieser außergewöhnlichen Sozialreportage berichtet sie aus dem Leben der Bewohner der Siedlung, in der sie von 1928 bis 1938 als Sozialarbeiterin tätig war. 1911 wurde für arme, unterstandslose und kinderreiche Familien in Wien-Ottakring nahe der Vorortelinie eine Barackensiedlung errichtet.

In der Geschichte von dem kleinen Buben Heinz, der das erste Mal in seinem Leben ein Buch in Händen hält, blitzt bereits etwas von Rosa Dworschaks besonderer Haltung auf. Die Erzählungen Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständnis nach für psychoanalytische Sozialarbeit grundlegend ist: Dem lebendigen Interesse für die anderen, der Fähigkeit zu verstehen, auf andere und deren Lebensauffassung einzugehen und sie nicht zu verurteilen. Rosa Dworschak ist mit August Aichhorn Teil der psychoanalytischen Sozialarbeit im Wien der Zwischenkriegszeit.

Zwischenruf
Sonntag, 13.11.2016, 6.55 Uhr, Ö1

Neugierde und Wohlwollen

Hier entwickelte sich ein für die Zeit neuer pädagogischer Blick auf das Kind. „Ich lasse mich weder auf die Besprechung der vorgebrachten Beschuldigung ein, noch fülle ich Drucksorten aus“, bemerkte August Aichhorn spitz, „sondern veranlasse das Kind, von zu Hause und von der Schule zu erzählen: gebe ihm die Möglichkeit zu kritisieren, seine Wut zu entladen“.

Er nutzte die Übertragung nicht nur zur Deutung unbewusster Regungen, sondern zu Schaffung starker affektiver Erlebnisse. Die Beratungsstellen erzielten erstaunliche Ergebnisse mit diesem therapeutischen Zugang. Aichhorn betonte, dass „nacherziehende heilende Wirkung“ nur möglich ist, wenn das Kind als erfahrenes, leidendes, deutendes und interpretierendes Subjekt ernst genommen und mit Neugierde und Wohlwollen angehört wird.

Buchhinweis:
Karl Fallend, Hg. und Klaus Posch, Hg., „Rosa Dworschak. Dorfgeschichten aus der Großstadt: Zur Geschichte und Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Band 7“, Verlag Löcker

Für ein weniger abhängiges Leben

Das stellte sich auch dem üblichen Umgang mit Armutsbetroffenen entgegen. Die einen verwandeln sie ja gerne in Objekte von Strafpolitik, in defizitäre Unterschichtsdeppen, die nichts können. Die anderen betrachten sie wiederum gerne als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwährende Opfer, die alles brauchen. Aber nie als Akteure, als Handelnde, als Subjekte, als Personen.

„Alles, was an Ketten erinnerte, - mochten es auch nur dünne Fäden sein, war den Bewohnern der Siedlung verhasst“, berichtet Frau Silberbauer in den Dorfgeschichten. Ob etwas gut oder schlecht, hilfreich oder nicht ist, beurteilen sie danach, ob es ein „weniger abhängiges Leben“ ermöglicht. Das ist eine einfache aber umso bedeutendere Erkenntnis auch für die heutige soziale Arbeit, auch in der Diakonie.