„Demokratie“

Demokratie. Was ist das eigentlich? Der amerikanische Präsident wurde demokratisch gewählt, in zwei Wochen wählen wir in Österreich.

Zwischenruf 20.11.2016 zum Nachhören:

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Wahlen sind Ausdruck und Mittel der Demokratie. Und doch sinkt in Europa die Wahlbeteiligung kontinuierlich und ist oft nicht mehr wirklich repräsentativ. Geld und Medien beeinflussen die Wahlen, Postings und Tweets in den sozialen Medien können einfach gekauft werden. Wahlergebnisse werden angefochten. Wann ist ein Ergebnis legitim? Und wie sieht es mit der Effizienz unseres demokratischen Systems aus? Koalitionsverhandlungen dauern immer länger. „Es geht nix weiter, es herrscht Stillstand in der Politik“ – so reden Herr und Frau Österreicher. Ist unser demokratisches System am Ende?

Gisela Ebmer
ist Inspektorin für evangelischen Religionsunterricht an den Höheren Schulen in Wien

Elite von Bürgern

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan – Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Diese Worte Martin Luthers lassen mich fragen: Wie frei und verantwortungsbewusst ist unser politisches System?

Der belgische Historiker und Ethnologe David van Reybrouck stellt in seinem letzten Buch fest, dass die Demokratie im alten Athen vor rund 2.500 Jahren von Philosophen und Historikerinnen noch immer als vorbildhaft gesehen wird. Die Folgen der französischen Revolution hingegen mit ihren scheinbar demokratischen Wahlen werden von manchen Forschern nur als neue Aristokratie bezeichnet. Eine Elite von Bürgern löste die Könige und Fürsten ab. Demokratie wollte man damals keine. Das gewöhnliche Volk sollte nicht mitreden.

Ausgelostes Gremium

Im antiken Athen wurde die Volksvertretung nicht durch Wahlen bestimmt, sondern durch das Los. Nur das Los galt als wirklich demokratisch. Es macht keinen Unterschied zwischen Regierenden und Untertanen. Denn jede und jeder kann der Regierung angehören und dann wieder regiert werden. Es gibt kein Wiedergewählt -Werden, und die Amtszeiten dauern kurz. Bei der Laiengerichtsbarkeit haben wir dieses System heute noch. 12 Geschworene, bunt zusammengewürfelt, ohne jegliche Vorbildung, unbeeinflusst durch finanzielle Anreize und Medien, entscheiden einstimmig über Freiheit oder Unfreiheit eines Menschen.

Zwischenruf
Sonntag, 20.11.2016, 6.55 Uhr, Ö1

Van Reybrouck meint: In der Politik könnte das so aussehen, dass ein großes, unter allen erwachsenen Einwohnerinnen und Einwohnern des Landes ausgelostes Gremium zunächst die Themen bestimmt, die in der nächsten Zeit dran sind. Arbeitsgruppen aus freiwilligen Teilnehmenden erarbeiten dann Gesetzesvorschläge zu diesen Themen. Ein weiteres Gremium aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern holt zu diesen Entwürfen Berater und Expertinnen dazu. In der nächsten Phase entscheiden wiederum ausgeloste Bürger und Bürgerinnen über das Gesetz usw. Ich finde diese Gedanken spannend. Sie sollten weitergedacht werden. Freiheit heißt dann Freiheit zur Gestaltung unseres Landes für alle Menschen, die hier leben. Und Verantwortung muss ebenfalls von allen getragen werden.

Systemisches Konsensieren

Und wie kommt man in einer Gruppe von so unterschiedlichen Menschen zu Einigkeit? Nicht durch Abstimmen. Abstimmen ist nicht demokratisch, abstimmen übergeht eine große Anzahl von Gegenstimmen, abstimmen führt zu Gegnerbildung, Kampfsituationen, Unzufriedenheit.

Systemisches Konsensieren ist ein spannendes Konzept, zusammengefasst von Siegfried Schrotta. Es geht in Konfliktsituationen darum, aus einer Anzahl von Lösungs-Alternativen diejenige herauszufinden, die in der Gruppe den geringsten Widerstand erweckt. Das bedeutet auch, dass jeder eingebrachte Vorschlag bereits so durchdacht sein muss, dass er möglichst wenig Widerstand hervorrufen wird. Im zweiten Durchgang werden nach einem ausgeklügelten mathematischen System von allen Beteiligten Widerstandspunkte vergeben. Es gibt hier keine Entweder-Oder-Lösungen, kein Polarisieren, keinen Populismus, keine Kampfabstimmungen. Geld, Macht und Einfluss spielen keine Rolle. Es gibt eine große Vielfalt an konkreten inhaltlichen Vorschlägen, die zu Konsens und Zufriedenheit führen können. Zu Freiheit und Verantwortung.

Literaturhinweis:

  • David Van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Deutsche Ausgabe Wallstein Verlag, Göttingen 2016
  • Erich Visotschnig, Siegfried Schrotta: Das SK-Prinzip. Wie man Konflikte ohne Machtkämpfe löst, Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2005