Muss immer erst etwas Schreckliches passieren?

Zur Krise der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt“. Diese beiden Sätze leiten die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ein, die von der UNO am 10. Dezember 1948 deklariert wurden.

Zwischenruf 8.1.2017 zum Nachhören:

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

Dem war Schreckliches vorausgegangen: zwei Weltkriege und das Verbrechen der staatlich angeordneten Vernichtung von Menschenleben, die als „unwertes Leben“ gebrandmarkt wurden, vor allem von Juden und Jüdinnen, aber auch von Minderheiten, unheilbar Kranken und Gegnern des Regimes.

Dr. Susanne Heine
ist Professorin am Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien

Die Idee der Menschenrechte

Muss immer erst etwas Schreckliches geschehen, damit Menschen zur Vernunft kommen? Wollen nicht alle Menschen in Frieden leben und in der Freiheit von staatlichen Übergriffen auf Gedanken und Glauben, auf Leben und Besitz? Und gibt es einen anderen Weg dazu, als staatliche Macht zu beschränken durch den Willen des Volkes in einem demokratischen Rechtssystem?

Offenbar nicht, denn die Idee der Menschenrechte hat bereits eine 800-jährige Geschichte und begann in England am 15. Juni 1215. Damals wurde König Johann I. von den Adeligen gezwungen, die Magna Charta zu unterzeichnen, die seiner Willkürherrschaft ein Ende setzte. An die Stelle der Inhaftierung und Hinrichtung von Regimegegnern trat der Rechtsschutz eines ordentlichen Gerichtsverfahrens, ein Prinzip, das in demokratischen Staaten heute noch Gültigkeit hat. Der Souverän stand damit nicht mehr über, sondern unter dem Gesetz des Landes. Allerdings nicht lange: neue Willkürherrschaft, Konfessionskriege, ein langjähriger Bürgerkrieg und eine Militärdiktatur mündeten in ein Gesetz, Bill of Rights genannt, das am 16. Dezember 1689 dem Parlament die Mitsprache garantierte.

Zwischenruf
Sonntag, 8.1.2017, 6.55 Uhr, Ö1

Und wiederum frage ich mich: Muss immer erst etwas Schreckliches geschehen, damit Menschen zur Vernunft kommen? Muss es erst Kriege geben und abertausende von Toten? Musste England erst seine Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent ausplündern und einen langen Unabhängigkeitskrieg lostreten, bis die Verfassung der USA 1787 Freiheit und Gleichheit aller Bürger festschreiben konnte? Musste es in Frankreich Revolutionsterror und die Guillotine für Revolutionsfeinde geben? Der Weg von der Magna Charta, der Bill of Rights, der Verfassung der USA, der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 bis zur Deklaration der Menschenrechte 1948 ist lang und blutig. Und ich frage mich: Geht es nicht auch anders? Mit der Stimme der Vernunft und des Gewissens?

Wie weit reichen Vernunft und Gewissen?

In der Präambel werden die geltenden Menschenrechte damit begründet, dass die „Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei“ führt, deren Anerkennung hingegen „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet“. Was Barbarei ist, lehrt die Erfahrung, der Friede verdankt sich dem Glauben „an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau“, so steht es in der Präambel. Und heute? Ist dieser Glaube verloren gegangen? Feiert die Barbarei nicht wieder „fröhliche Urständ“ in Worten und Taten?

Krisen überall: Terrorkrise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise, Krise der Demokratie gehen mit der Krise der Menschenrechte einher und lassen das Verlangen nach einem „starken Mann“ aufkommen, der wieder einmal ordentlich dreinschlägt. Dann wären wir wieder bei jener Willkürherrschaft angelangt, gegen die jahrhundertelang gekämpft wurde. Und ich frage mich: Muss sich das wiederholen? Ist es nun das Volk, das mit demokratischen Mitteln eine Herrschaft an die Macht bringen will, die die Menschenrechte mit Füßen tritt? Wie weit reichen Vernunft und Gewissen? Oder braucht es nicht noch eine andere Instanz, einen Gott, der alle Menschen geschaffen und sie als Verwalter der Erde dazu bestimmt hat, kein Blut zu vergießen, sondern Frieden zu stiften? Sind nicht auch solche, die Verbrechen begehen, eines rechtsstaatlichen Verfahrens würdig? Fragen über Fragen – sie suchen eine Antwort, die nur Sie und ich geben können. Ich votiere für die Menschenrechte und den Glauben an die Würde und den Wert jedes Einzelnen als Geschöpf Gottes.