Sich gehen lassen

Wenn ein Freund zu Besuch kommt, gehe ich voll Freude zum Bahnsteig und warte auf seine Ankunft. Vor diesem ersten Augenblick hatte ich jedoch Angst, als eine Freundin an einer schweren Krankheit litt, denn: Wie wird sie aussehen? – Die Nähe, die ich zu ihr spürte, ging mit einer schmerzlichen Sorge um ihre Gesundheit einher.

Gedanken für den Tag 16.5.2017 zum Nachhören:

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

In einer Freundschaft interessieren wir uns dafür, wie sich die andere Person körperlich fühlt und sind in einer guten Art und Weise für sie da. Ähnliches gilt für die Freundschaft mit sich selbst: Sie beinhaltet, dass wir auf die Signale unseres Körpers achten und für ihn sorgen. Und dass wir mittels unseres Körpers unserer Psyche Gutes tun.

Melanie Wolfers
ist katholische Theologin, Autorin und Ordensfrau. Ihr jüngstes Buch „Freunde fürs Leben“ ist im adeo-Verlag erschienen.

Pulsschlag des Augenblicks

Unser Körper vermag nämlich manches zu verarbeiten, was uns seelisch belastet. Eine im Alltag leicht umsetzbare Möglichkeit ist das Gehen. Im Gehen lösen sich Blockaden. Wenn sich Gedanken und Gefühle zu einem festen Knäuel verknotet haben, schafft das Gehen äußeren und inneren Raum. Wir gewinnen ein Stück Distanz zu dem, worin wir vorher verstrickt gewesen sind, und der ruhige Rhythmus der Schritte überträgt sich auf einen selbst.

Daher lohnt es sich, die im Alltag verstreuten Chancen zu ergreifen, dass wir uns – wörtlich verstanden – gehen lassen. Und es empfiehlt sich, auf solchen Wegen die üblichen Ablenkungen zu vermeiden. Denn wenn ich beim Gehen noch Telefonate erledige oder Mails checke, dann lenkt ein Autopilot meine Schritte, während ich selbst ganz woanders bin. Kein Wunder, dass mich in solchen Momenten die heilsamen Wirkungen des Gehens nicht erreichen!

Die digitale Nabelschnur für eine gewisse Zeit abzuschneiden kann erst einmal verstören. Manche fühlen sich in solchen Momenten isoliert und denken: „Nur noch ich – ohne Anschluss an den Rest der Welt.“ Doch schon nach kurzer Zeit macht sich der Reichtum der analogen Gegenwart bemerkbar: Ich verbinde mich mit dem Hier und Jetzt. Spüre den Pulsschlag des Augenblicks. Komme mit dem göttlichen Geheimnis des Lebens in Berührung.

Musik:

Glenn Miller Orchestra unter der Leitung von Wil Salden: „All of me“ von Gerald Marks
Label: Universal/Koch 2727950