Den Tag vor dem Abend loben

Sich vorbehaltlos zu freuen, fällt manchmal nicht leicht. Da erzählt ein Vater: „Ich stehe am Bett meiner Kinder, lausche den ruhigen Atemzügen und rieche ihren vertrauten Duft. Ein Gänsehautgefühl von Glück und Liebe… Aber wie aus dem Nichts plötzlich steigen Ängste in mir auf, was ihnen alles zustoßen könnte.“

Gedanken für den Tag 17.5.2017 zum Nachhören:

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Es ist paradox: Einerseits wünschen Menschen sich mehr Freude. Aber andererseits melden sich gerade in Augenblicken großen Glücks oft düstere Fantasien zu Wort. Das ist nicht verwunderlich, denn in solchen Momenten ruft sich oft auch unsere Verletzlichkeit in Erinnerung: Wir können diesen Augenblick nicht festhalten. Die Menschen, die uns viel bedeuten, sind zerbrechlich. So wie ich selbst und alles, was ich aufgebaut habe. Unabweisbar drängt sich das Empfinden auf: Dieser wunderbare Augenblick ist alles andere als selbstverständlich! – Deswegen kann Freude auch ein leises inneres Beben auslösen.

Melanie Wolfers
ist katholische Theologin, Autorin und Ordensfrau. Ihr jüngstes Buch „Freunde fürs Leben“ ist im adeo-Verlag erschienen.

Verschiedene Stimmen

Die entscheidende Frage ist: Wie deute ich dieses innere Beben? Neige ich dazu, es als Warnschuss zu interpretieren, der mahnt: „Freu dich nicht zu früh! Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben!“ Oder verstehe ich den Schauder als eine Einladung, dankbar zu sein: für den Menschen an meiner Seite, für das berauschende Gipfelerlebnis nach einem anstrengenden Aufstieg oder einfach für den gegenwärtigen Augenblick?

Wenn ich in mich selbst hineinhorche, nehme ich verschiedene dieser Stimmen in mir wahr. Dann kann ich mich fragen: „Wem will ich mehr Glauben schenken: meiner Angst, die mir das Heute stiehlt, indem sie mich das Morgen fürchten lehrt? Oder meinem dankbaren Vertrauen, dass sich mir hier und jetzt das Leben in seiner Schönheit zeigt?“ Dankbarkeit bewirkt, dass man den Tag auch vor dem Abend lobt.

Der christliche Glaube lädt ein, dass wir jenen Stimmen Gehör schenken, die uns innerlich weit machen und unsere Freude stärken - im Vertrauen darauf, dass sich die ganze Welt einem schöpferischen göttlichen Geheimnis verdankt.

Musik:

Boston Pops Orchestra unter der Leitung von John Williams: „In the mood“ von Joe Garland
Label: Philips 4126262