Der innere Selbstkritiker

Beim morgendlichen Blick in den Spiegel stichelt es: „Also deine Friseur, die geht ja gar nicht! Und schau dir mal deine Falten an!“ Doch nicht nur, wenn es um das eigene Aussehen geht, lässt der innere Selbstkritiker kein gutes Haar an einem. Meistens fällt der Blick ins eigene Innere ähnlich negativ aus. Harsche Selbstkritik gehört zum Volksleiden Nummer eins.

Gedanken für den Tag 18.5.2017 zum Nachhören:

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Ein wichtiger Grund dafür liegt in dem irrsinnigen Druck der Leistungsgesellschaft: „Optimiere dich, oder du bist raus!“ Es gilt, das Beste aus sich zu machen. Und weil es zu jedem Besten immer noch ein Besser gibt, schraubt sich das Ego-Tuning wie von selbst in die Höhe. Zugleich nährt es das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, da man den überhöhten eigenen Erwartungen nicht gerecht geworden ist. Und so flüstert es in einem: „Ich bin nicht gut genug. Nicht schlank genug. Nicht cool genug…“

Melanie Wolfers
ist katholische Theologin, Autorin und Ordensfrau. Ihr jüngstes Buch „Freunde fürs Leben“ ist im adeo-Verlag erschienen.

Grenzen und Schwächen

Doch der an Optimierung geschulte Blick sieht eine Sache grundlegend falsch! Er übersieht: Grenzen und Schwächen sind Grundgegebenheiten unseres Daseins. Sie prägen das Leben eines jeden Menschen – sogar mein eigenes… Wer dies in sein Selbstbild integriert, kann mit einem verständnisvolleren Blick auf sich schauen.

Der Vergleich mit einer zwischenmenschlichen Freundschaft hilft weiter: Da weiß jemand um meine Stärken und Schwächen, um meine Erfolge und Niederlagen – und mag mich so, wie ich bin. In der Gegenwart einer solchen Person lässt sich aufatmen.

Mit sich selbst befreundet sein angesichts der eigenen Mittelmäßigkeit funktioniert ähnlich: Will ich Frieden schließen auch mit dem, was meinem Selbstbild widerspricht, mit meinen Grenzen und Schwächen?

Eine spirituelle Grunderfahrung liegt darin, dass das eigene Leben mit seinem Gelungenen und Zerbrochenen im Großen und Ganzen geborgen ist. Das christliche Vertrauen, sich nicht perfektionieren zu müssen, um ein wertvoller Mensch zu sein, ist unsagbar befreiend.

Musik:

Yehudi Menuhin und Stephane Grappelli/Violine m.Begl.: „The Way you look tonight“ aus dem Film „Swing Time“ von Jerome Kern
Label: EMI 7692192