„Ein Blatt aus sommerlichen Tagen“

Zum 200. Geburtstag von Theodor Storm: Ein kleines gedrucktes Heft, das fahle Licht im Klassenzimmer und diese namenlose Traurigkeit – daran erinnere ich mich noch.

Gedanken für den Tag 11.9.2017 zum Nachhören:

Dieses Element ist nicht mehr verfügbar

Wir hatten im Deutschunterricht Theodor Storms Novelle „Pole Poppenspäler“ gelesen. „Paul, der Puppenspieler“ hieße der Titel auf hochdeutsch. Die zerbrochene Kasperl-Figur, die dem alten Puppenspieler Joseph ins Grab nachgeworfen wird, hat eine Traurigkeit in mir ausgelöst, die ich lange nicht loswerden konnte. Es war, als hätte meine Welt einen Riss bekommen.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Hinwegsetzen über Vorurteile

Jetzt, für diese Sendung, habe ich den „Pole Poppenspäler“ nach Jahrzehnten wieder gelesen. Und darin ganz unerwartet sehr viel Hoffnung darauf entdeckt, was Liebe und Unerschrockenheit vermögen. „Pole Poppenspäler“ wurde ja auf eine Haustüre geschrieben, um die Schande von Paul Paulsen zu markieren, der als Handwerkermeister und ehrsamer Bürger das Puppenspieler-Lisei geheiratet hatte, die Tochter von Schaustellern. Wie sich die beiden schon als Kinder einander annähern und sich dann 12 Jahre später wiedersehen, weil Liseis Vater aufgrund einer falschen Beschuldigung im Gefängnis sitzt – diese Erzählung hat eine große Kraft. Paul hat sich tief hineinbegeben in die Faszination des Puppenspiels, hat auch Liseis Vater, den alten Puppenspieler Joseph, geehrt und in seine Liebe mit einbezogen. So hat er aus der Brandmarkung „Pole Poppenspäler“ einen Ehrentitel gemacht.

Eine Erniedrigung und Verspottung sollte es auch sein, als Joseph bei seinem Begräbnis die lange verloren geglaubte Kasperl-Figur ins Grab nachgeworfen wurde. Der Pastor will diese Geste der Verachtung uminterpretieren und sagt: „Es hat eine Ruchlosigkeit sein sollen. ... Laßt es uns anders nehmen!“ Und er erzählt, wie Joseph durch diese Puppe, die er selbst geschnitzt hat, ein Leben lang die Menschen erheitert und erfreut und dem Narren Worte der Wahrheit in den Mund gelegt hat. „Laßt nun das kleine Werk seinem Meister folgen“, sagt der Pastor und zitiert die Bibel: „Und seid getrost; denn die Guten werden ruhen von ihrer Arbeit.“

Die Erzählung endet am Hochzeitstag von Paul Paulsen und seiner Frau; sie schließt mit dem Satz: „Es waren prächtige Leute, der Paulsen und sein Puppenspieler-Lisei.“ Und ich freue mich, dass Theodor Storm der Liebe und dem unerschrocken Sich-Hinwegsetzen über Vorurteile so viel zugetraut hat.

Literaturhinweise:

  • Theodor Storm, „Pole Poppenspäler“, Reclam Verlag 2002
  • Theodor Storm, „Der Schimmelreiter“, herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Philipp Theison, Alfred Kröner Verlag 2016
  • Theodor Storm, „Zur Chronik von Grieshuus“, herausgegeben und mit einem Nachwort und einem Glossar von Jochen Missfeldt, C. H. Beck Verlag 2013
  • Theodor Storm, „Gedichte. Auswahl“, herausgegeben von Gunter Grimm, Reclam Verlag 2012
  • Theodor Storm, „Immensee und andere Novellen“, Reclam Verlag 2002
  • Jochen Missfeldt, „Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert“, Carl Hanser Verlag, 3. Auflage 2013

Musik:

Eisler Quartett: „Sieben Bagatellen für Klarinette, Viola und Voliloncello Opus 53a / Nr. 4 Tranquillo“ von Adolf Busch
Label: Avi 4260085532681