Ein schwieriger Mensch

Zum 200. Geburtstag von Theodor Storm: Ein seriöser Herr mit langem Rauschebart, immer im Sakko, gelegentlich auch mit Fliege – das sind die Bilder, die ich von Theodor Storm kenne.

Gedanken für den Tag 14.9.2017 zum Nachhören:

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Auf den ersten Blick wirkt er auf mich wie ein typischer Patrizier des 19. Jahrhunderts. Heute vor 200 Jahren wurde er in Husum in Schleswig-Holstein geboren. Dort hat er auch die längste Zeit gelebt, nur zwischen 1853 und 1864 war er als Gerichtsassessor in Potsdam und als Kreisrichter im thüringischen Heiligenstadt tätig.

Bürgerliches Leben

Als Neunzehnjähriger verliebte sich Theodor Storm in die erst zehnjährige Bertha von Buchan; sechs Jahre später machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie jedoch zurückwies. Ja, Storm war pädophil, wie man aus der vor einigen Jahren erschienenen Biografie erfährt. Und Spuren dieser Neigung ziehen sich durch viele Novellen: Die an der Grenze von Geschwisterlichkeit und Erotik angesiedelte Nähe der Kinder Paul und Lisei in „Pole Poppenspäler“, die Liebe zu einer Kindfrau in der Novelle „Immensee“, ja überhaupt die Kinder, die Sinnlichkeit erfahren, und die Männer, die auf Mädchen zwischen zehn und 13 Jahren ansprechbar sind. Ausgelebt hat Storm diese Neigung wohl nicht, aber immer wieder literarisch gestaltet.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Das wichtigste aber, was sein Biograf Jochen Missfeldt konstatiert: Diese abweichende und verbotene sexuelle Neigung ist das kreative Zentrum des Werkes von Storm, und sie befähigt ihn, von den Außenseitern, den Andersartigen, den Scheiternden mit Zuneigung und Verständnis zu erzählen.

Gelebt hat Storm recht bürgerlich: Er heiratete seine Cousine Constanze Esmarch und hatte mit ihr sieben Kinder. Allerdings verliebte er sich bereits kurz nach der Hochzeit in die erst achtzehnjährige Dorothea Jensen, und diese Liebe hielt durch zwei Jahrzehnte an. Als seine Frau nach der Geburt des siebten Kindes an Kindbettfieber starb, heiratete er Dorothea im folgenden Jahr.

Ein schwieriger Mensch soll Theodor Storm gewesen sein: jähzornig, oft auch eingebildet. Ein einfacherer Charakter hätte die schwierigen Figuren seiner Novellen wohl nicht mit so viel Empathie zeichnen können. Und das, finde ich, ist doch das Kostbarste an der Prosa von Theodor Storm.

Literaturhinweise:

  • Theodor Storm, „Pole Poppenspäler“, Reclam Verlag 2002
  • Theodor Storm, „Der Schimmelreiter“, herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Philipp Theison, Alfred Kröner Verlag 2016
  • Theodor Storm, „Zur Chronik von Grieshuus“, herausgegeben und mit einem Nachwort und einem Glossar von Jochen Missfeldt, C. H. Beck Verlag 2013
  • Theodor Storm, „Gedichte. Auswahl“, herausgegeben von Gunter Grimm, Reclam Verlag 2012
  • Theodor Storm, „Immensee und andere Novellen“, Reclam Verlag 2002
  • Jochen Missfeldt, „Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert“, Carl Hanser Verlag, 3. Auflage 2013

Musik:

Musikvereinsquartett mit Andre Previn (Klavier): Quintett für Klavier und Streicher in f-moll op. 34, 1. Satz „Allegro non troppo“ von Johannes Brahms
Label: Philips 4126082