Bibelessay zu Jesaja 58, 7 - 12

Ich habe mir diesen Text nicht ausgesucht aber es ist eine schöne Fügung, ja es ist ein Geschenk, dass es mir zufällt, gerade diesen Text heute auslegen zu dürfen. Denn er gehört zu meinen Lieblingstexten in der Bibel; und das zum 50. Geburtstag von Ö1.

Zwei poetische, kraftvolle Bilder stechen besonders hervor: Licht, das wie die Morgenröte hervorbricht und die Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.

Thomas Hennefeld
ist evangelischer Theologe, Pfarrer und Landessuperintendent der evangelisch-reformierten Kirche in Österreich

Selbstkritisch am Versöhnungstag

In gewisser Weise treffen die Bilder auch auf Ö1 zu: Da wird kaum Bekanntes beleuchtet und das vielfältige Programm ist wie eine nicht versiegende Quelle. Der neue Sendetitel Lebenskunst passt auch gut zu diesem Text, denn es ist eine Kunst so zu leben, dass ich selbst ein glücklicher Mensch bin und gleichzeitig mein Leben in den Dienst anderer Menschen stelle.

Es ist nicht unwesentlich, die ersten Verse dieses 58. Kapitels des Jesajabuches mit zu bedenken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Text in nachexilischer Zeit entstanden, also in einer Zeit, in der die jüdische Gemeinde nach der Zerstörung des Landes durch die Babylonier aus dem Exil heimgekehrt ist. Die Gemeinde erwartet nun den Anbruch der Heilszeit. Dafür beteten und fasteten die Menschen, allerdings ohne Erfolg.

Lebenskunst
Sonntag, 1.10.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Der Prophet verurteilt diese Vorstellung mit scharfen Worten. Er belehrt das Volk, dass es Gott ein Gräuel sei, dieselben Menschen fasten zu sehen, die krumme Geschäfte machten und Streit vom Zaun brechen, ja den anderen übervorteilen oder gar Blut vergießen. Es ist bemerkenswert, dass Jüdinnen und Juden an ihrem höchsten Feiertag, dem „Jom Kippur“, der übrigens gerade gefeiert wurde, einen Text lesen, mit dem sie selbst mit sich kritisch ins Gericht gehen. Denn der Versöhnungstag ist auch ein besonderer Fasttag.

Nächstenliebe statt Fasten

Im Anschluss an seine Mahnung ruft der Prophet zu einem ganz anderen Fasten auf. Dem Hungrigen zu essen zu geben, dem Obdachlosen in dein Haus aufnehmen und den Nackten zu kleiden. Diese Wendungen sind nicht neu. Sie tauchen an verschiedenen Stellen in der Bibel auf, in anderen Prophetenbüchern und in den Evangelien.

Im Gleichnis vom großen Weltgericht legt der Evangelist Matthäus mit dem Hinweis auf die Hungrigen, Obdachlosen und Nackten, also den besonders Bedürftigen, Gott die Worte in den Mund: „Was du einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan hast, das hast du mir getan.“

Die Reformatoren Zwingli und Calvin haben mit Jesaja 58 zu ihrer Zeit die Doppelmoral des Fastens und Geschäftemachens – damals bezogen auf die Römische Kirche – ebenso scharf kritisiert wie der alttestamentliche Prophet Jesaja. Und sie haben betont, dass die Gnade Gottes, aus der heraus der Mensch lebt, kein Widerspruch ist zur tätigen Nächstenliebe. Im Gegenteil: sie folgt daraus.

Wegweiser für das Leben

Der Prophet spricht von der Heilung, die voranschreiten möge. Das heißt aber nichts anderes, als dass der vorhergehende Zustand krank war. Es ist krank, nur den eigenen Vorteil zu suchen, es ist krank, nur dem Profit und der Macht nachzustreben und dabei zwangsläufig den anderen zu schädigen. Wenn ich das erkannt habe, dann kann ich mich auf den Weg der Umkehr begeben. Das kann mich selbst verändern. Und dafür verwendet der Verfasser eben die Bilder, die ich vorher schon erwähnt habe: Licht und Quelle.

Wer schon einmal einen Sonnenaufgang gesehen hat, der weiß, wie überwältigend so ein Anblick sein kann. Und wer einen Garten mit vertrockneten Pflanzen bewässert hat, der weiß, wie wunderbar es ist, schon fast Verwelktes neu zum Blühen zu bringen. Der so verwandelte Mensch kann durch sein Handeln an den Bedürftigen selbst zum Licht und zur Quelle für andere werden. Es geht aber nicht nur um den persönlichen, sondern auch um den öffentlichen Bereich. Es geht ums ganze Land, das aufgebaut und wieder zum Blühen gebracht werden soll. Mit seinen Taten und mit der Bereitschaft zum Teilen wird der verwandelte Mensch diesen Prozess befördern.

Und so ist der Spruch aus dem Jesajabuch Ansporn, Herausforderung und gleichzeitig ein Wegweiser, der dem Leben Richtung und Orientierung geben kann. Das umzusetzen, das zu leben, ist nicht einfach. Vielleicht ist es sogar eine Kunst, eine Lebenskunst.