Dobroje utro Russland

„Dobroje utro“ – so oder so ungefähr heißt es in der Früh in Russland – und es macht traurig, dass es nur ungefähr so heißen kann. Der Akzent ist das Schicksal der Russen. Niemand spricht Russisch ohne Akzent, außer einige wenige Russen im tiefsten Sibirien, in den Ländern mit ständiger Nacht.

Gedanken für den Tag 13.10.2017 zum Nachhören:

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Das bedeutet, dass so gut wie nie ein richtiger russischer „guter Morgen“ zu hören oder zu sehen ist, wenn es ihn überhaupt gibt. „Kann es einen ‚guten Morgen‘ überhaupt geben?“, hatte schon Puschkin mit seinem leicht afrikanischen Akzent gefragt, noch dazu in einem Land, in dem die Sonne öfter untergeht als sie aufgeht? „Ja, es gibt diesen Morgen und deshalb auch dieses Morgen“, antwortete Majakowsky, bevor er sich erschoss. Es läge weder im Osten, noch im Westen, es wäre weder oben noch unten, es läge einzig und allein auf der Zunge. Und zwar auf der Zunge einer Russin, vor allem einer singenden Russin.

Herbert Maurer
ist Schriftsteller und Übersetzer

Durch das Singen lässt sich auch der Akzent überlisten, der ewige Grund zur Traurigkeit zwischen Morgenland und Abendland, das hatten sich Puschkin und Majakowsky von Ivan Rebroff beweisen lassen, von jenem deutschen Schlagerstar, der vor allem in der Früh fast so schön singen konnte wie eine Russin, aber eben nur fast. Denn diese, die Russin in der Früh, mit nichts als einer Bärenfellmütze bekleidet – sie, und keine andere – balanciert das schönste „dobroj utrom“ ohne Akzent auf ihrer Zungenspitze – von Nowosibirsk bis Sankt Petersburg, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Musik:

Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks unter der Leitung von Wladimir Fedosejew: „Walzer“ aus der Oper „Krieg und Frieden“ op. 91 von Sergej Prokofieff
Label: Musica classic 7800052