Bibelessay zu Jesaja 5, 1 – 7

Dieser Text beginnt wie ein Lied. Ein Liebeslied. Der Weinberg als Metapher für die Geliebte. Poetisch also setzt dieser Text ein. Doch mit dieser Poesie geschieht etwas, sie ändert sich.

Es ändert sich die Perspektive. Zunächst scheint ein Ich ein Lied über einen Freund zu singen, auf einmal ist das Ich dieser Freund selbst, dem der Weinberg gehört: der mit der vielen Arbeit, der mit den sauren Beeren. Dann auf einmal merkt die Zuhörerin, der Zuhörer, sie sind angesprochen, sie sind selber mitten drin. Was zunächst klang wie das Urteil über den Weinberg, all die Drohungen, die schützende Hecke zu entfernen, den Weinberg zu Ödland zu machen: Es gilt den Zuhörern selbst.

Brigitte Schwens-Harrant
ist katholische Theologin, Germanistin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung „Die Furche“

Menschenwürde wird mit Füßen getreten

Nicht alle Bilder „funktionieren“ zu allen Zeiten gleich. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, in dem Bild des Weinbergs das eigene Volk oder sich selbst zu sehen und im Herrn des Weinbergs Gott, der einen bepflanzt und bebaut und von einem gute Früchte erwartet. Nach Leistung klingt dieses Bild in der ökonomisierten Gegenwart, im Sinn von: Ich habe so viel investiert, wo bleibt die Gegenleistung? Als persönliche Enttäuschung in Bezug auf eine Beziehung verstanden, im Sinn von „ich habe mir so viel Mühe gemacht, es hat nicht geholfen“, kann man das Bild aber vielleicht auch heute noch verstehen. Hier spricht eine enttäuschte Liebe.

Lebenskunst
Sonntag, 8.10.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Für mich ist das Stärkste an diesem Text seine formale Gestalt: Zuerst das Besingen einer Liebe, als würde ein Märchen folgen. Dann der Wechsel der Perspektive, aber auch von Ort und Zeit, der deutlich macht: Der Enttäuschte selbst spricht, und er spricht die Zuhörer an. Und dann der Knall: das Gegenteil von Weinbergidylle. Kein Weinberg mehr, keine Natur, keine Metapher, wir sind mitten in der Realität, mitten in der Gesellschaft, es geht um menschliches Versagen, wenn es heißt: „Er hoffte auf Rechtsspruch - / doch siehe da: Rechtsbruch, und auf Gerechtigkeit - / doch siehe da: Der Rechtlose schreit.“

Im 8. Jahrhundert vor Christus entstanden, wirkt dieser Text noch heute. Menschenwürde wird mit Füßen getreten. Statt Recht gibt’s Rechtsbruch, statt Gerechtigkeit zu leben, lässt man die Rechtlosen schreien.