Wes das Herz voll ist...

Als eine „Rhetorik des Herzens“ hat ein Forscher einmal den Sprach- und Schreibstil Martin Luthers bezeichnet. Damit ist gemeint: Der Reformator wollte – besonders mit seiner Bibelübersetzung – den Menschen in Herz und Seele, in seinem innersten Personenkern erreichen. Dazu gehört ein Reden in Bildern, viel Humor, ein wenig Ironie und ein ganz bestimmter Rhythmus in der Sprache.

Morgengedanken 11.10.2017 zum Nachhören:

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Das Lukasevangelium (6, 45) gibt eine Weisheit von Jesus wieder, die klar macht, dass ein guter Mensch Gutes und eine böser Mensch Böses aus seinem Herzen hervorbringt. Und der Originaltext endet - wörtlich übersetzt - mit: „aus dem Überfluss des Herzens spricht der Mund“. Luther fand das kein verständliches Deutsch und so setzte er ein: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“

Karl Schiefermair
ist Oberkirchenrat der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich

Mit oder ohne Genetiv

Ein Satz voll bildnerischer Vorstellungskraft, versehen mit einem wunderbaren Taktgefühl! Kein Wunder, dass sich dieser Satz zu einem Sprichwort entwickelt hat, auch wenn heute die Genetivformen „wes“ und „des“ fremd geworden sind und eher der Dativ gehört wird: „Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über“. Aber wie schon ein anderer humorbegabter Sprachforscher (Bastian Sick) schreibt: der Dativ ist dem Genetiv sein Tod!

Nimmt nun auch der Genetiv ein Ende mit Schrecken? Bei der Beantwortung dieser Frage stoßen wir auf den Umstand, dass auch dieses Sprachbild: „ein Ende mit Schrecken nehmen“ auf Luther zurückgeht. Den Vers 19 im Psalm 73 übersetzt er auf diese Art. Ist dies dasselbe wie ein „schreckliches Ende“ oder ein „Verschwinden mit Grausen“? So lauten andere Übersetzungen. Mit welchen Worten erreicht man die Herzen der Zuhörerschaft? Das ist eine dringende Frage für alle, die etwas mitteilen wollen. Mit oder ohne Genetiv.