Sündenböcke und Schuldige

Egal was passiert – sei es ein Autounfall oder eine Wahlniederlage: Sofort beginnt die Suche nach dem „Schuldigen“. Irgendjemand muss die Verantwortung übernehmen – ein „Sündenbock“ muss her.

Morgengedanken 16.10.2017 zum Nachhören:

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Kurz vor Geschäftsschluss eile ich im Laufschritt in den Supermarkt. Das Auto habe ich vorschriftsmäßig geparkt. Bei meiner Rückkehr durchfährt mich ein gewaltiger Schreck: Jemand hat mein Auto mit bunten Blüten beklebt: Rote und gelbe, schön verteilt. Es schaut gar nicht schlecht aus, aber ich will doch keine Blüten auf dem Autolack!

Elisabeth Rathgeb
ist Leiterin des Seelsorgeamtes der römisch-katholischen Diözese Innsbruck

Gräben zuschütten und Brücken bauen

Mein erster Reflex: Wer war das? Wer hat das getan? Wer ist schuld? Erst, als die Fernbedienung nicht reagiert, merke ich, dass es gar nicht mein Auto ist. Meines steht zwei Plätze weiter - verdeckt von einem Kastenwagen – unversehrt in pfeffergrau.

Gestern war Nationalratswahl. Heute ist die Suche nach dem Sündenbock in vollem Gang: Reflexartig kommt auch hier die Frage nach dem Schuldigen und gleich die ersten Rücktrittsforderungen: Er oder sie wird in die Wüste geschickt. Dann ist alles wieder gut.

Die Ursachenforschung ist wichtig. Verantwortung übernehmen auch. Aber der Sündenbock-Reflex ist ein uraltes Muster, das uns nicht weiterbringt: Es lenkt davon ab, dass in einer Gemeinschaft viele Verantwortung tragen. Fragen wir am Tag nach der Wahl besser: Wie können wir Gräben zuschütten und Brücken bauen? Fangen wir am besten gleich damit an.