Bibelessay zu Weisheit 6, 12 – 16

Mitunter erscheint es leicht, sich in der Welt zurecht zu finden. Vieles ist vorhersehbar. Wenn ich mir den Fuß stoße, tut es weh. Wenn ich ohne Schirm nach draußen gehe, und der Regen schaut herein, werde ich mit großer Wahrscheinlichkeit nass nach Hause kommen.

Und wenn ich freundlich bin, habe ich gute Chancen, dass die Menschen auch mir mit Freundlichkeit begegnen. Unsere Lebenswelt ist voll von solchen Vorstellungen, von Weisheiten, die sich in kurze Sätze bannen lassen, und mit denen wir uns in unserer Welt orientieren.

Mirja Kutzer
ist katholische Theologin und Germanistin, sie lehrt Dogmatik an der Universität Kassel

Geordnete Welt

Schon das alte Israel kannte diese Form von Weisheit. Die Bibel enthält eine Fülle von Sprüchen, kurzen Sätzen, die Erfahrungen bündeln, sie systematisieren und so zu Handlungsanleitungen werden lassen. In diesen Sätzen geht es um Konkretes: Nicht gierig zu sein. Einem Menschen nicht zu schnell zu vertrauen. Den Freund aber auch nicht zu beschimpfen, will man ihn behalten. Es sind viele einzelne Bausteine, die dazu beitragen sollen, dass das Leben gelingt. Noch grundlegender vermitteln diese Sätze die Einsicht, dass die Welt geordnet ist. Sie ist gute Schöpfung Gottes, lesbar, berechenbar. In dieser Welt kann ich mich zurecht finden, habe ich mein Schicksal letztlich selbst in der Hand. Denn so wie ich handle, wird es mir auch ergehen.

Lebenskunst
Sonntag, 12.11.2017, 7.05 Uhr, Ö1

Damit wären wir wieder im Heute, denn auch säkular lässt sich diese Vorstellung einer geordneten Welt vielfach durchbuchstabieren: Wenn ich mich gesund ernähre und maßvoll Sport treibe, werde ich länger leben. Wenn ich mich anstrenge, bin ich erfolgreich im Beruf. Solche Sätze treiben uns an. Und doch merken wir immer wieder, dass sich hinter jeden dieser Sätze ein Fragezeichen setzen lässt. Denn wir kennen natürlich auch andere Beispiele: Die Krankheit, die sich nicht erklären lässt. Das berufliche Scheitern trotz solider Ausbildung und Fleiß. Die zerbrochenen Beziehungen, von denen keiner so genau weiß, wo die Brüche angefangen haben. Vieles, was wir erfahren, erscheint nicht berechenbar oder auch zu komplex, um es zu verstehen. Wie aber dann in dieser Welt leben? Wie den Alltag bewältigen, wenn ich die Folgen meiner Handlungen nicht vorhersehen kann? Wie mit Lebenskrisen umgehen?

Suche nach dem gelungenen Leben

Diese Zweifel durchziehen auch die weisheitliche Tradition der Bibel. Sie prägen das relativ späte, nämlich im 1. Jahrhundert vor Chr. entstandene Buch der Weisheit. In ihm wird unter anderem die Erfahrung verarbeitet, dass immer wieder schlechte und gottlose Menschen ein unbeschwertes Leben führen, während die Gerechten leiden und sie der frühe Tod ereilt. Angesichts dieser Erfahrungen wandelt sich das Sprechen von der Weisheit. Sie begegnet nicht mehr in kodifizierten Sätzen, die befolgt werden können. Stattdessen wird sie gezeichnet wie eine Person. Sie sitzt vor der Tür und wartet. Sie geht umher und sucht diejenigen, die sie finden wollen. Sie kommt entgegen, ist nicht Objekt des Wissens sondern Subjekt einer Begegnung.

Diese Weisheit mag ein bisschen anmuten wie im Märchen. Dabei ist die Figur keineswegs naiv. Sie verlagert die Vorstellung von Wissen. Dieses besteht nicht oder zumindest nicht allein in dem, was sich in Sätzen aussagen lässt. Sein wesentlicher Bestandteil ist vielmehr die Haltung, aus der es erwächst. Was wir wissen können und wie wir handeln sollen, gründet in einer Suche nach dem gelingenden Leben. Diese Suche ist getragen von dem Wunsch, dass alles gut sein möge, auch wenn die Welt mitunter chaotisch, intransparent und ungeordnet erscheint. Und es lebt von dem Vertrauen, dass dieser Wunsch nicht ins Leere läuft, - von Gott gehört wird. Letztlich kann dieses Vertrauen nur geschenkt werden. Es muss einem entgegenkommen wie die Frau Weisheit, die am Morgen vor der Tür sitzt und wartet. Doch erst dieses Vertrauen macht aus dem Wissen eine Weisheit, die leben lässt.