Liebe

Zwei nackte sitzende Figuren in inniger Umarmung. Die rechte Hand des Mannes umfasst die Hüfte der Frau, während die Frau ihren linken Arm um den Hals des Mannes schlingt und seinen Kopf zu ihrem Gesicht herunter zieht.

Gedanken für den Tag 22.11.2017 zum Nachhören:

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Es gibt wohl kaum ein zweites Kunstwerk, das so populär ist wie diese Paardarstellung Auguste Rodins. Sie ging unter dem Titel „Der Kuss“ in die Kulturgeschichte ein und ist genauso wie Michelangelos „David“ oder Leonardos „Mona Lisa“ fixer Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses.

Sehnsuchtsort für Generationen

Dabei war die Skulptur, von der es zahlreiche Variationen in unterschiedlichen Größen und Materialien gibt, gar nicht als selbstständiges Werk gedacht gewesen. Ursprünglich sollte sie Teil von Rodins „Höllenpforte“ werden, an der er seit dem Jahr 1880 in Folge eines Auftrags arbeitete. Als Ausgangspunkt diente ihm dabei Dantes „Göttliche Komödie“. Inspiriert von diesem Literatur-Klassiker entwickelte Rodin seine Paardarstellung. Sie war der verbotenen Liebe zwischen Paolo und seiner Schwägerin Francesca gewidmet, die während des Lesens eines Minneromans entflammt. Schließlich ließ sich die Plastik nicht in die Gesamtkonzeption des „Höllentors“ integrieren, so dass sie als „Kuss“ ein Eigenleben annahm.

Johanna Schwanberg
ist Leiterin des Dom Museum Wien

Schwer vorstellbar ist heute, was für einen Skandal dieses Kunstwerk auslöste, als es 1887 erstmals in Paris ausgestellt wurde. Es sei anstößig und obszön, lautete damals der allgemeine Tenor. Auch als es sechs Jahre später in Chicago gezeigt wurde, war es noch hinter einem Vorhang versteckt und durfte nur von erwachsenen männlichen Besuchern bestaunt werden. Bald drehte sich das Blatt und Rodins „Kuss“ wurde zum breitwirksamen Kassenschlager.

Mich fasziniert, dass es ein Kunstwerk seit über 100 Jahren schafft als Sehnsuchtsort für Generationen von Menschen zu fungieren. Dies gelingt Rodin unter anderem durch eine spezielle Komposition. Denn die Köpfe des Paares sind einander so zugewandt, dass man auch beim mehrmaligen Umrunden dieser Skulptur keines der beiden Gesichter erkennen kann. Durch das Nicht-Zeigen bleiben genügend Freiräume für viele denkbare Imaginationen von Liebe. Jede Form der Sehnsucht nach Nähe zwischen Frau und Mann findet in dieser monumentalen skulpturalen Gestaltung ein Zuhause.

Musik:

Sidney Bechet/Klarinette: „Si tu vois ma mère"
Label: Milan/Warner 3299039976029