Bibelessay zu Gen 22,1-18

Die soeben gehörte Erzählung aus dem ersten Buch der Bibel ist eine schwere Kost. Menschen heute reagieren oft einfach nur empört und sind in ihrem Vorurteil gegenüber dem sogenannten Alten Testament bestätigt.

Tatsächlich erschließt sich dieser Bibeltext schwer - nicht nur den Menschen heute. An ihm zerbrechen viele, vielleicht sogar die meisten lieb gewordenen Vorstellungen von Gott. Und seit es diesen Text gibt, ringen jüdische, aber auch christliche Fachleute um seine Auslegung. Liegt die Aufmerksamkeit auf Abraham, dann sagt der Text klar: „Gott stellte Abraham auf die Probe.“

Martin Jäggle
ist Religionspädagoge und katholischer Theologe

Abraham soll sich bewähren in einer aus menschlicher Sicht dunklen, ausweglosen Situation. In der Erzählung ist Abraham nicht sehr gesprächig, aber was er sagt, sagt er dreimal: „Hineni!“ „Hier bin ich!“. Das erste Mal als er von Gott angesprochen wird: „Hineni!“ „Hier bin ich!“. Das zweite Mal als er von seinem Sohn angesprochen wird: „Hineni!“ „Hier bin ich!“. Und das dritte Mal als er vom Engel angesprochen wird. „Hineni!“ „Hier bin ich!“ Genau dieses hebräische Wort „Hineni“ ist das erste Wort, das ein jüdischer Vater zu seinem neugeborenen Kind sagt.

„Hineni!“ „Hier bin ich!“

Es bedeutet: Ich bin hier mit Leib und Seele, mit größter Aufmerksamkeit und Verantwortung. Es ist eine Form der Hingabe. Abraham weicht nicht aus. Er erklärt sich gegenüber Gott verantwortlich. Und er erklärt sich seinem Sohn gegenüber verantwortlich. Abraham war der erste, der so gegenüber Gott sprach und nach ihm wird es von Isaak, Jakob und anderen in der Bibel erzählt, was Gott selbst zu den Menschen sagt „Hineni!“ „Hier bin ich!“. Seitdem sprechen es Jüdinnen und Juden - und Leonard Cohn singt, ja haucht es: „Hineni!“

Liegt aber die Aufmerksamkeit auf Isaak ergeben sich andere Perspektiven. In der jüdischen Tradition trägt der Bibeltext den Titel „Die Bindung Isaaks“. Denn Isaak, so wird es gesehen, lässt sich - als Erwachsener – binden - bereit zum Opfer. Die Bindung Isaaks endet nicht tödlich, aber die Pogrome der Kreuzzüge und die Schoa. In den Pogromen der ersten Kreuzzüge sterben die jüdischen Opfer nicht wie Isaak, sondern als Isaak.

Identifikationsfigur

Die jüdischen Märtyrer und Märtyrerinnen der Kreuzzugspogrome „gaben sich der Opferung hin und bereiteten selbst die Schlachtstätte zu, wie einst der Vater Isac“, erinnert Rabbiner Ephraim bar Jacob, ein Talmudgelehrter im 12. Jahrhundert. Isaak wird zum Vorbild all derer, welche das Martyrium zur Heiligung des Namens (Kiddusch ha-Schem) mit ihrem Leben bezeugen, also zur Verherrlichung des Ewigen. Die Bindung Isaaks ist ein Modell der Leidensbewältigung geworden für das jüdische Volk in Zeiten der Verfolgung und Vernichtung.

Es verleiht einem unbegreiflichen Unglück Sinn und die Würde des Martyriums. Es bindet das jüdische Volk tröstend in die Gemeinschaft der Opfer der jüdischen Geschichte ein. Wie die Judaistin Verena Lenzen schreibt: „Als Identifikationsfigur für Verfolgte überdauert die Bindung Isaaks Jahrhunderte, und sie schließt klar und deutlich die gesamte jüdische Geschichte ein, ja, sie umfasst sie – als wandelten Abraham, Sara und Isaak noch auf der Erde.“