Jeder Mensch ist wertvoll

Christa ist vor zwei Wochen ins Demenzzentrum gezogen. Sie war wütend, enttäuscht und zornig auf alle, die das arrangiert hatten.

Zwischenruf 25.2.2018 zum Nachhören:

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Nie, nie wollte sie ausziehen aus ihrem Haus, sterben wollte sie dort, wie ihr Mann, daran erinnerte sie sich, zumindest in den lichten Momenten. Aber es ging halt nicht mehr zu Hause. Seit Christa den alten Lebensrhythmus ihrer Jugend wieder aufgenommen hatte, musste Hugo sogar das Garagentor absperren, damit sie nachts nicht im Nachthemd um die Häuser zog.

Sieglinde Pfänder
ist evangelisch-lutherische Pfarrerin in Oberwart im Burgenland.

Tagsüber lümmelte sie faul und uninteressiert auf der Wohnzimmercouch, hatte gar keine Lust, sich anzuziehen oder gar zu waschen. Alles war mühsam, auch das Reden. Am liebsten starrte sie Löcher in die Zeitung, die konnte sie stundenlang hochhalten. Alles andere machte keinen Sinn.

Lust, zu lachen

Jetzt hatte Christa ein neues Zimmer. Vertraut war nur die Bettwäsche mit dem Blümchenmuster, altrosa, ihre Lieblingsfarbe. Und die Tonarbeiten an den Wänden. Stunden lang hatte sie das früher immer gemacht, einen Klumpen Ton mit ihren Händen geformt und ihm so Leben gegeben. Und dann waren da noch Bilder von Menschen, die wohl irgendetwas mit ihr zu tun haben mussten. Aber was genau, das wusste Christa nicht.

Zwischenruf
Sonntag, 25.2.2018, 6.55 Uhr, Ö1

Und da waren den ganzen Tag Menschen, fremde Menschen. Manchmal seltsam vertraut … und dann wieder ganz fremd. Aber sie spürte die Veränderung an sich selbst. Die Agonie wurde jeden Tag ein bisschen mehr von Interesse abgelöst. Sie hatte wieder Lust zu lachen. Ihr Humor war manchmal einfach wieder da. Hin und wieder kann ich an ihrem Gesicht sehen, dass ihr Lachen sie selbst überrascht.

Ein Platz in der Gemeinschaft

Jeder Mensch ist wertvoll. Jeder Mensch hat etwas zu geben. Jeder Mensch hat das Recht auf einen Platz in der Gemeinschaft. „Du hast leicht reden“, sagte meine Cousine genervt zu mir. „Die Mama ist jetzt 86 und ich kann sie nicht mehr allein lassen. Wenn ich arbeiten gehe, hab ich den ganzen Tag Herzrasen, weil ich Angst hab vor dem, was mich am Abend zu Hause erwartet. Gestern hat sie Feuer auf dem Holzofen gemacht, zum Glück war mein Sohn zu Hause, sonst wäre vielleicht das ganze Haus abgebrannt und sie mitten drin. Ich halt das nicht mehr aus!“.

„Wieso bringst du Tante Käthe dann nicht endlich in eine Betreuungseinrichtung?“, habe ich gefragt. „Weil mein Bruder mir das nicht verzeihen würde – und die Mama vielleicht auch nicht, und die Nachbarn werden sagen, dass ich sie weggebe, weil sie zu einer Last geworden ist … und meinen Kindern gebe ich ein schlechtes Vorbild, sie werden mich auch weggeben, wenn ich ihnen zu mühsam werde“.

Traurig und schön zugleich

Während das alles aus ihr heraussprudelt, kullern Tränen über ihre Wangen, dann seufzt sie tief und sagt: „Gib mir die Nummer, ich ruf dort an.“ Wenige Tage später sitzt Tante Käthe mit verstrubbelten Haaren in mitten einer Gruppe von alten Menschen und hält eine Babypuppe fest im Arm. „Wir hatten ein schönes Leben, weißt du das noch?“ Zärtlich streichelt sie die Puppe, dann schaut sie mich an und sagt: „Peppi, du warst immer meine beste Freundin“ … ich lächle wehmütig, sie meint meine Oma, die seit über 30 Jahren tot ist … und sagt: „Schau, was für ein Glück, dass ich nach 16 Jahren jetzt doch noch mal ein Kind haben darf!“.

Ich bin auf eine seltsame Art traurig und froh zugleich. Jedes Mal wenn ich im Demenzzentrum zu Besuch bin, spür ich, dass die Uhren langsamer gehen, sich mein Alltag entschleunigt, mein Pulsschlag sinkt. Es fühlt sich an, als würde ein Weichzeichner die Realität übermalen. Die Intensität der Zeit mit diesen Menschen geht mir unter die Haut. Sie lassen mich teilhaben an der Reise, die uns an die Anfänge, eigentlich sogar an den Ursprung unseres Lebens zurückbringt.

Das ängstigt Sie? Mich auch … und doch nicht. Gott sei Dank, gibt es Räume, in denen wir diese Reise leben dürfen.