Das Menschlichste

„Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennengelernt zu haben.“ Diesen Satz sagt der Schüler Moritz in Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen“, bevor er sich das Leben nimmt.

Gedanken für den Tag 7.3.2018 zum Nachhören:

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„Das Menschlichste“ – damit meint er die Sexualität. Dass Sex menschlich und natürlich ist – diese Botschaft setzt „Frühlings Erwachen“ als Aufschrei gegen Prüderie und Scheinmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Szene.

Cornelius Hell
ist Literaturkritiker und Übersetzer

Frank Wedekind hat die freie Sexualität auch selbst gelebt: Er hatte wechselnde Partnerinnen und mehrere Kinder mit ihnen; so ging etwa aus der Liebesaffäre mit Frida Strindberg, der Ehefrau von August Strindberg, 1897 der Sohn Friedrich Strindberg hervor. Frank Wedekind war als Person und als Künstler eine ständige Provokation. Und doch ist das nicht die einzige Rolle, auf die man sein Leben reduzieren kann. 1906 heiratete er die um 21 Jahre jüngere Schauspielerin Tilly Newes, mit der er zwei Kinder hatte und trotz vieler Zwistigkeiten bis zu seinem Tod zusammenlebte.

Zu feierlich

Im Stück „Frühlings Erwachen“ führt Wedekind das Aufbrechen der nicht so einfach zu bändigenden oder in Gefühle integrierbaren Triebhaftigkeit vor. „Ich liebe dich so wenig, wie du mich liebst“, sagt Melchior zu Wendla, bevor er sie entjungfert. Diese desillusionierte Darstellung von Sex, Masochismus und Sadismus, homoerotischen Annäherungen und Onanie hat „Frühlings Erwachen“ zum Skandalstück gemacht. Dabei übersieht man leicht, wie klar dieses Drama den Zusammenhang von Erwachen der Sexualität und Ich-Werdung, von Körper-Erfahrung und Denken zeigt. Und aus der Ausweglosigkeit und Todessehnsucht führt nicht das sexuell erfahrene Künstler-Modell Ilse, sondern der vermummte Herr, eine Art Vater-Figur, der Melchior Nähe und Vertrauen anbietet.

Aber gegenüber diesen Worten wäre Wedekind wahrscheinlich skeptisch, so wie er skeptisch war gegenüber Worten wie Liebe oder gar Moral. „Nur mit Einem lag ich in ewigem Streit, / Mit dem hohlen Götzen der Feierlichkeit“, resümierte er in einem seiner Gedichte. Das Wort Liebe wäre ihm wahrscheinlich schon zu feierlich.

Buchhinweise:

  • Frank Wedekind, „Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie“, Reclam Verlag 2013
  • Frank Wedekind, „Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora“, Reclam Verlag 1999
  • Frank Wedekind, „Der Marquise von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen“, Wallstein Verlag 2018

Musik:

Dimitri Alexeev/Klavier: „Walzer für Klavier in As-Dur op. 69 Nr. 1 , op. posth.“ von Frederic Chopin
Label: EMI 7475012