Bibelessay zu Markus 11, 1 – 10

Mit dem heutigen Palmsonntag treten Christinnen und Christen in die Heilige Woche ein –Höhepunkt und Zentrum des Kirchenjahres. In Gebeten, Lesungen und Evangelientexten sowie Liturgien erinnern sich die Gläubigen an das Leiden, Sterben und Auferstehen des Messias Jesus von Nazareth. Sie verkünden und feiern darin das Geheimnis der Versöhnung und Rettung der Menschheit mit und durch Gott.

In der Liturgie des heutigen Sonntags wird die Leidensgeschichte Christi erzählt. Berichtet wird von einem scharfen Konflikt, der tödlich endet und an dem neben dem römischen Statthalter Pontius Pilatus und dessen Helfern vor allem Juden beteiligt sind. Indem Christen in diese Erinnerungen eintauchen, vergegenwärtigen sie sich den Weg des Leidens und Sterbens Jesu. Dadurch erhalten sie Anteil an diesem Drama und üben sich mit Jesus im Gehorsam gegenüber Gott – jenem Gehorsam, in dem Jesus stellvertretend das Leiden und die Schuld aller Menschen freiwillig auf sich genommen hat, damit sich der Wille Gottes gemäß der Heiligen Schriften Israels erfüllt. Soweit das Ideal des gläubigen Mitvollzuges der Passionsgeschichte.

Regina Polak
ist katholische Theologin und Religionssoziologin

Angemessenes Verständnis der Passionsgeschichte

In der Realität war diese Passionsfrömmigkeit über Jahrhunderte freilich gefährlich – gefährlich vor allem für Juden. Grausame Judenpogrome fanden oft in der Karwoche statt. Vor allem am Karfreitag war es für Juden besser, sich zu Hause zu verstecken, denn nach der Liturgie attackierten wutentbrannte Christen Juden, die in ihren Augen die Schuld am Tod Jesu trugen und als Gottesmörder betrachtet wurden. Die Verehrung Jesu und die Gefühle der Trauer verquickten sich auf fatale Weise mit antijüdischen Ressentiments und Hass.

Nach der Shoa, der millionenfachen Ermordung von Juden, hat in der römisch-katholischen und evangelischen Kirche ein Umdenkprozess stattgefunden und die liturgischen Texte wurden weitgehend von antijudaistischen Äußerungen befreit. Gleichwohl sind manche dieser Traditionen nach wie vor gegenwärtig. Den kirchlich Verantwortlichen kommt daher in der Verkündigung und Auslegung der Osterbotschaft eine große Verantwortung zu.

Lebenskunst
Sonntag, 25.3.2018, 7.05 Uhr, Ö1

So ist es für ein angemessenes Verständnis der Passionsgeschichte zentral zu verstehen, dass es sich dabei um keine Dokumentation historischer Ereignisse handelt. Die Evangelien sind weder Biografie noch Gerichtsakten. Historisch ist gesichert, dass der Jude Jesus vom Imperium Romanum politisch des Aufruhrs und der Unruhestiftung verdächtigt und unter Mitwirkung jüdischer Menschen von den Römern in Jerusalem hingerichtet wurde.

Machtverzicht und Dienen

Die Darstellungen der Evangelien sind demgegenüber Glaubensaussagen. Wenn sie dabei die politische Rolle des Pontius Pilatus schmälern – in der Geschichtswissenschaft als gewalttätiger Schlächter bekannt - und jüdische Hohepriester und Älteste als wesentliche Antriebskräfte darstellen, spiegeln sich darin sowohl heftige innerjüdische Konflikte als auch die Angst vor der römischen Gewaltherrschaft wider.

Worin besteht die Glaubensaussage für den Palmsonntag? Wenn Jesus in Jerusalem einzieht, erkennen die Judenchristen damals darin die Bekräftigung der prophetischen Verheißungen, dass die universale Königsherrschaft des Gottes Israels angekommen ist. Im Licht dieser Verheißungen wird in Jesus sichtbar, wie diese Herrschaft wirkt: nicht hoch auf einem Kriegsroß, sondern auf einem Eselsfohlen. Gottes Herrschaft bedeutet Machtverzicht und Dienen. DIES ist die theologische Pointe des heutigen Tages. Sie zu überhören und in das Gerede von der Schuld „der“ Juden einzustimmen, bedeutet, die Frohe Botschaft des Evangeliums zu verfehlen. Als Gejohle hat solches Gerede Juden das Leben gekostet.

Das Böse hat nicht das letzte Wort

Im heurigen Gedenken an den Anschluss 1938 bekommt die Frage nach der Auslegung der Passion besondere Brisanz. Diese deckt nämlich auch jene Dynamiken des Bösen auf, die sich im Umfeld der damaligen Ereignisse auf erschreckende Weise gegen die jüdische Bevölkerung richteten: Die unheilvolle Verstrickung religiöser Führungspersonen mit den Machtansprüchen politischer Herrscher, die der Bevölkerung zum Aggressionsabbau einen Sündenbock anbieten; die Manipulierbarkeit und Unberechenbarkeit der Masse, deren Stimmung in beängstigendem Tempo vom frenetischen Jubel zu mörderischem Hass pervertieren kann; das Versagen der Jünger Christi, die das Opfer im Stich lassen.

Der Mangel an Widerstand gegenüber solchen Dynamiken ist eine bleibende Anfrage – nicht nur für gläubige Christinnen und Christen. Demgegenüber verkündet das Evangelium der Passionsgeschichte, dass das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Die Praxis des leidenden Gerechten, wie sie bereits in Texten des Alten Testaments beschrieben und für Christen in Jesus Christus sichtbar wird, ist die bis heute herausfordernde Antwort.