Bibelessay zu Johannes 15, 1 – 8

Der jüdische Gelehrte Meir Löw, den man meist nur Malbim nennt, hat im 19. Jh. die verschiedenen Aussagen in der Bibel kommentiert, in denen Israel als Weinstock oder Wein bezeichnet wird und dazu gemeint, dass die verschiedenen Teile des Weinstockes unterschiedliche Gruppen der jüdischen Gesellschaft verkörperten.

Die Äste seien die Oberen, die Trauben die Gelehrten, die Blätter das einfache Volk und die Weinranken wären jene Menschen, die sich nicht um das Lernen und die Tora kümmerten. Aber so wie die Trauben das schützende Dach der Blätter brauchen, um nicht abzusterben, so brauchen die Gelehrten die Unterstützung der einfachen Menschen. Alle gehören zusammen und alle bilden eine Einheit mit unterschiedlichen Aufgaben. Die Einheit besteht also gerade in der Vielheit und Diversität.

Gerhard Langer
ist katholischer Theologe und Judaist

Die Frucht vom Stock trennen

Im Evangelium des Johannes wird das Bild vom Weinstock in einer ganz anderen Weise interpretiert. Jesus allein ist der Weinstock, die Jünger sind die Trauben, die nur dann existieren können und dürfen, wenn sie sich voll und ganz auf Jesus hin ausrichten. Alleingänge führen in die Leere. Hier kann man erahnen, dass die Gemeinde, für die dieser Text geschrieben wurde, sich in einer Krise befindet, von Spaltung bedroht und von Verfolgung nicht frei ist. Die Botschaft des Evangeliums, nicht zuletzt auch der darauffolgenden Passagen, ist auf die Einheit und Geschlossenheit der Gemeinde ausgerichtet. Die Liebe untereinander wird intensiv betont und die Gemeinde auf die Worte Jesu eingeschworen.

Lebenskunst
Sonntag, 29.4.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Trotzdem wirkt der Text an manchen Stellen bedenklich. Das Verbrennen der Reben, also der Teile der Gemeinde, die nicht richtig handeln, erweckt bei mir schlimme Erinnerung an die Verfolgung und die Tötung von Häretikern und Abweichlern in der Kirchengeschichte. Die Botschaft Jesu richtet sich, das wird in der Folge im Evangelium betont, nicht an Knechte, Sklaven, sondern freie Menschen, Freunde, die sich untereinander lieben sollen. Aber müssen freie Menschen nicht auch in die Lage versetzt werden, eigenständig zu denken und vielleicht auch Regeln zu hinterfragen, deren Einhaltung hier unumstößlich zu sein scheint? Oder, um es im Bild vom Weinstock auszudrücken: Die Frucht des Weines kommt zu ihrer eigentlichen Bestimmung erst, nachdem sie vom Stock getrennt ist. Erst dann kann sie sich zur Freude der Menschen – in natürlichem oder noch besser in vergorenem Zustand – entfalten.