Wenn Kinder stark sein müssen

Papas Herz ist kaputt. Die beiden Buben sehen, dass Papa ins Krankenhaus muss. Sie sehen Mama weinen. Papa leidet an einer schweren Herzkrankheit.

Zwischenruf 29.4.2018 zum Nachhören:

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Ob er all das überleben wird, weiß niemand. Mama weiß es auch nicht. Sie sagt Sätze wie: „Die Engelchen sitzen auf Papas Schultern und überlegen, ob sie ihn mit in den Himmel nehmen sollen.“ Maja Roedenbeck erzählt auf dem Podium der Wiener Hauptbücherei von ihrer Familie und dem Ringen ihrer beiden Kinder in den Tagen von Papas Herztransplantation – und vom Alltag davor und danach.

Martin Schenk
ist Sozialexperte der Diakonie

Die ganze Familie im Blick

Ein Mann im Saal hebt die Hand und meldet sich zu Wort. „Ich kann nicht ruhig bleiben. Vieles aus meiner Kindheit kommt gerade hoch. All das, was ich mit meinem alkoholkranken Vater erlebt habe.“ In der Reihe schräg vor ihm nimmt eine junge Frau ihren Mut zusammen und das Mikrofon in die Hand. „Meine Mutter war schwer depressiv, so bin ich aufgewachsen, ich war als Tochter oft stark und dann wieder verzweifelt. Bin ich schuld? Was kann ich machen, damit es Mama wieder besser geht?“ Viele quälende Fragen haben das kleine Mädchen umgetrieben. Bis heute.

Maja Roedenbeck nimmt ihr Buch und liest eine weitere Geschichte vor. Sie erzählt von einem Mädchen, das seine an Multiple Sklerose erkrankte Mama pflegt. Titel der Story: „Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir ist wie das zwischen Patient und Pfleger“.

Zwischenruf
Sonntag, 29.4.2018, 6.55 Uhr, Ö1

43.000 Kinder und Jugendliche erledigen in Österreich tagtäglich pflegerische Aufgaben, zu denen sie weder psychisch noch körperlich in der Lage sind. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei 12 Jahren, 70% sind Mädchen. Vielfach sind die Kinder allein gelassen. Warum gibt es da so wenig Unterstützung? In Österreich hat man den Eindruck, als könne es nur zwei Lösungen geben: stationäre Betreuung in einem Heim oder 24h Dauerbetreuung zu Hause. Das sind aber die falschen Alternativen. Die Kinder brauchen das, was dazwischen liegt. Leistbare mobile Dienste für ein paar Stunden, die nach Hause kommen, eine „Family Health Nurse“, also eine Familienschwester, die die ganze Familie im Blick hat, auch sozialpädagogisch kompetent ist. Das gibt es in Dänemark, wo die Trennung zwischen medizinischem und sozialem Bereich nicht so gegeben ist. Da können auch neue Berufsbilder entstehen, die sozialarbeiterische und pflegerische Kompetenz in einem haben.

Es geht um das dazwischen

Es braucht die Anbindung an die lokale Community oder ans Grätzel. Oder Sozialnetzkonferenzen, die die Ressourcen in der Umgebung des Kindes heben. Das geht so, dass das Kind fünf Menschen nennt, denen es vertraut. Zum Beispiel den Onkel, der immer ein offenes Ohr hatte, den Fußballtrainer, die Frau aus der Bücherei, die Kindergruppenleiterin aus der Pfarrgemeinde. Die werden alle eingeladen und überlegen sich gemeinsam mit dem Kind, wo sie unterstützen können.

„Meine Mutter kam nach Monaten endlich wieder nach Hause“, erzählt die junge Frau, „aber ich musste ihr beim Duschen helfen, den Haushalt führen, Essen kochen. Wenn sie zum Arzt musste, hab ich sie begleitet, weil der Lift im Halbstock war und die Stufen konnte sie nicht alleine gehen. Und auf der Straße brauchte sie immer den Rollstuhl, da hab ich sie auch geführt“. Was sie gebraucht hätte, und was sie sich wünsche, frage ich nach. Sie sagt: „Dass es jemanden gibt, der mich an der Hand nimmt und mir „tragen“ hilft. Jemanden, der den Alltag weiterhin organisiert, und ich mich nicht selbst um alles kümmern muss. Jemanden, der meine Sorgen ernst nimmt und mir Zuspruch und Verständnis entgegenbringt.“

Schwach und stark zugleich, mussten sie sein, erzählen die jetzt erwachsenen Kinder. Alle berichten, dass es keinen Raum für ihre Erfahrungen gab und gibt, ein großes Tabu, das nie angesprochen werden kann, mit dem sie sich allein gelassen fühlen. Bis heute dauert das Ringen um einen versöhnten Rückblick an: Das Ringen, dass all das, was war, selbstverständlicher Teil meiner Geschichte werden kann - ohne die Gegenwart zu vergiften und die Zukunft zu verbauen.