Bibelessay zu Kolosserbrief 4, 2 - 6

Kolossä, die Stadt der kolossalen, der „hohen Säulen“, gibt es nicht mehr. Die Stadt lag in der heutigen Westtürkei an der Handelsstraße nach Ephesus, von dem auch nur die berühmten Ausgrabungen geblieben sind.

Der Apostel Paulus war in der Gegend, ziemlich sicher in Ephesus, vielleicht auch in Kolossä. In beiden Städten entstanden christliche Gemeinden. An beide Gemeinden, Ephesus und Kolossä, sind im Neuen Testament Briefe erhalten, die der Überlieferung nach von Paulus selbst stammen. Er saß irgendwo im Gefängnis, „um Christi willen bin ich in Fesseln“, schreibt er, und bat die Christinnen und Christen in Kolossä, dass sie für seine Freilassung beten mögen. Wahrscheinlich stammen einige Passagen in den Briefen auch von Mitarbeitern des Paulus und nicht von ihm selbst, da gibt es eine hitzig geführte Diskussion der Fachleute dazu. Das muss uns jetzt aber nicht aufhalten.

Michael Bünker
ist evangelisch-lutherischer Bischof von Österreich

Entzauberung der Welt

In der Stadt Kolossä gab es offenkundig eine herrschende Weltsicht, Paulus nennt es eine „Philosophie“ (2,8), die von einem klaren Oben und Unten bestimmt war. Unsichtbare, aber höchst wirksame Mächte und Gewalten bestimmten vermeintlich alles. Sich mit ihnen gut zu stellen, sich nach ihnen zu orientieren, versprach ein gutes Leben in stabilen Verhältnissen. Wie ein zauberhafter Schleier lag diese höhere Ordnung über allem. Paulus zerriss diesen Schleier. Nein, sagt er, es gibt diesen Schleier nicht. Da sind keine numinosen Mächte, die über uns herrschen und nach denen wir uns zu richten hätten. Alles ist durch Jesus Christus erschaffen, in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit. Alles hat seinen Existenzgrund durch ihn und in ihm, auch irgendwelche höheren Mächte, die die irdische Herrschaft stabilisieren und die Menschen glauben machen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse der Ungleichheit nie geändert werden können, weil sie irgendwie heilig sind.

Damit setzt Paulus einen weiteren Schritt zur „Entzauberung der Welt“, die mit dem biblischen Glauben - zuerst jüdisch, dann christlich - begonnen hat. Freilich: Die Befreiung, die damit auch in Kolossä eingesetzt hat, die Relativierung aller sozialen Unterschiede, wird noch sehr zaghaft und halbherzig umgesetzt. Auch wenn es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Sklaven und Freien, wurde die Sklaverei selbst noch nicht in Frage gestellt. Auch wenn der Unterschied von Mann und Frau relativiert wurde, hat man die patriarchale Gesellschaft und die Unterordnung der Frauen noch nicht hinterfragt. Da klingt in der Tat manches in heutigen Ohren sehr konservativ.

Antisemitismus und Rechtsextremismus nehmen zu

Dennoch muss der Unterschied so deutlich gewesen sein, dass die Christinnen und Christen in Kolossä von den anderen, denen, „die draußen sind“, danach gefragt wurden. Einem jeden sollen sie antworten, voll Weisheit, mit wohlklingender, aber doch zugleich reichlich gesalzener Rede. Aber was sollen sie antworten? Dazu rät der Apostel, von den eigenen Vorstellungen, Meinungen und Weltanschauungen abzusehen. Die Antwort kommt von wo anders her, von einem anderen her. Sie kommt aus dem Gebet. Beharrlich und wachsam zu beten – mit dieser Aufforderung setzt der Apostel ein. Sich einer Botschaft zu öffnen, die sich Menschen nicht selbst sagen, die sie nicht in Zeitungen und im Internet lesen, die sie nicht an den Stammtischen und bei Podiumsdiskussionen ausstreiten, das könnte eine neue, bisher ungehörte, ja eine unerhörte Stimme einbringen. Die Echoblasen, in denen viele Menschen sich selbst in den eigenen, schon längst fertigen Meinungen bestätigen, würden aufgebrochen.

Lebenskunst
Sonntag, 6.5.2018, 7.05 Uhr, Ö1

Wachsamkeit und Beharrlichkeit werden dringend gebraucht in Zeiten wie diesen. Heute findet die internationale Befreiungsfeier im ehemaligen KZ Mauthausen statt. Antisemitismus und Rechtsextremismus nehmen zu, Feindseligkeit und Verhetzung sind an der Tagesordnung, neue Sündenböcke sollen eine Politik wachsender Ungleichheit rechtfertigen. Für Christinnen und Christen kann das Gebet Kraft geben, die Freiheitsbotschaft Jesu festzuhalten, nicht aus den Augen zu verlieren: Versöhnung und Frieden, ein gutes Leben für alle. Beharrlich und wachsam bleiben, alles ins Gebet nehmen.