Selbstverbrennungen: Widerspruch zur Lehre Buddhas?

Durch den Besuch des Dalai Lama rückt die Region, deren höchste geistliche Autorität er ist, wieder stärker in den Fokus: Tibet.

Über 60 Jahre nach dem Einmarsch Chinas in das größte Hochland der Erde kam es gerade während der vergangenen Jahre immer wieder zu einer Extremform des Protests: die Selbstverbrennung zumeist junger buddhistischer Mönche und Nonnen. Diese Praxis erscheint nicht nur ungeheuer grausam, sondern auch widersprüchlich, denn eigentlich lehnt der Buddhismus den Selbstmord ab.

Vom „Einsatz der richtigen Mittel“

Der Religionswissenschaftler Franz Winter bemerkt im Gespräch mit religion.ORF.at dazu grundsätzlich: „Alle großen Religionen verbieten beziehungsweise problematisieren den Selbstmord. Buddha selbst predigte prinzipiell den ‚mittleren Weg‘, der jedwede Extreme eigentlich ausschließt.“ Andererseits gebe es im Buddhismus, vor allem in seiner Mahayana-Ausprägung, die Vorstellung vom „Einsatz der richtigen Mittel“ (upaya-kaushalya), dessen Grundidee die Verbreitung der Lehre mit allen Mitteln sei.

Friedlicher Protest exiltibetischer Mönche und Nonnen in Neu-Delhi

EPA/Nindito Mukherjee

Friedlicher Protest exiltibetischer Mönche und Nonnen in Neu-Delhi

Eine mögliche Begründung für eine Selbsttötung, die einem höheren Ziel gewidmet ist, könnte das zentrale Ideal des Bodhisattva darstellen. Ein Bodhisattva kann ein Mensch oder ein übernatürliches Wesen sein, das danach strebt, anderen bei der Erlösung zu helfen. Dabei stellt der Bodhisattva seine eigenen Bedürfnisse hintan und verzichtet sogar auf seine eigene Erlösung.

„Höchste Form der Hingabe“

Selbsttötungen, wie sie auch die in den vergangenen Jahren häufig geschehenen Selbstanzündungen waren, könnten im Kern als eine solche höchste Form der Hingabe verstanden worden sein. Als Vorgeschichte im 20. Jahrhundert nennt Winter eine durch ein berühmt gewordenes Foto bekannte Selbstverbrennung eines vietnamesischen Mönches aus dem Jahr 1963. Dieser spektakuläre Selbstmord richtete sich gegen den damaligen katholischen Staatspräsidenten Vietnams, der den Buddhismus einschränkte.

Es gab zudem auch in der älteren Geschichte des Buddhismus Beispiele für Selbstverbrennungen, so insbesondere aus dem China des ersten Jahrtausends, wo sie als besondere Form der Askese betrieben wurden. Dies war allerdings immer auch in der eigenen Tradition heftig debattiert, und im 10. Jahrhundert gab es sogar ein Edikt des damaligen chinesischen Kaisers, der die Selbstverbrennung verbot.

Jahrelanges Gefühl der Unterdrückung

Der wahre Antrieb für die aktuellen Vorgänge in Tibet ist laut Winter wohl die „Verzweiflung über die Missstände“, die von der tibetischen Bevölkerung als Unrechtsverhältnisse interpretiert werden. Dem Religionswissenschaftler zufolge müssen diesen Selbstverbrennungen ein jahrelanges Unterdrückungsgefühl vorangegangen sein.

Kontrolle mit harter Hand

China hält Tibet seit 1951 besetzt und kontrolliert die autonome Region sowie die anliegenden Provinzen, in denen ebenfalls viele Tibeter leben, mit harter Hand. Das autonome Gebiet Tibet, die 1965 installierte Verwaltungseinheit der Volksrepublik China, ist nur etwa halb so groß wie der ursprüngliche tibetische Kulturraum.

Aktivisten beklagen die immer stärker werdende Ansiedlung von Chinesen in tibetischen Gebieten und befürchten eine dergestalt durchgeführte „ethnische Säuberung“. Der derzeitige und 14. Dalai Lama lebt in Indien im Exil, die Exilregierung der Tibeter hat ihren Sitz im indischen Dharamsala.

14. Dalai Lama „einer der bedeutendsten“

Die Geschichte des Lamaismus in Tibet hat dabei durchaus auch ihre dunklen Seiten. „Das ist eine traditionelle Gesellschaft mit feudalen Strukturen. Seit dem 17. Jahrhundert existierte in Tibet eine klerikale und gleichzeitig weltliche Hierarchie“, führt der Buddhismus-Experte aus. Durch die gegenwärtige, als Unterdrückung empfundene Fremdherrschaft werde die Geschichte gewiss idealisiert.

Die Bedrohung von außen bringe einen stärkeren Zusammenhalt zwischen Volk und Geistlichkeit. „Das Mönchstum ist integraler Bestandteil der tibetischen Kultur.“ Der 14. Dalai Lama muss aber bereits jetzt als einer der „bedeutendsten der Dalai Lama“ gelten, unter anderem, weil er die Demokratie eingeleitet und seine Funktion als weltliches Oberhaupt Tibets de facto zurückgelegt hat.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at