Wahl zum 105. „Canterbury“ bleibt spannend

In der „Church of England“ - der „Anglikanischen Kirche“ - gibt es derzeit noch keine Einigung auf einen neuen Primas als obersten geistlichen Leiter dieser christlichen Kirchengemeinschaft. Bis Jahresende soll die Entscheidung fallen.

Die Anglikanische Kirche

Die Anglikanische Kirche ist eine weltweite christliche Kirchengemeinschaft, die katholische und evangelische Glaubenselemente vereint. Ihre Liturgie orientiert sich an der katholischen Praxis, ihre Theologie ist ähnlich der evangelischen.

Die englischen Buchmacher hatten sich schon sehr zeitig festgelegt: John Sentamu werde der neue Erzbischof von Canterbury und damit Primas der anglikanischen Staatskirche von England, verrieten die Quoten der Wettbüros. Tatsächlich schien der Erzbischof von York, Nummer zwei der Kirchenhierarchie, der geborene Nachfolger: intelligent, charismatisch, dynamisch, telegen, als erster Schwarzer so politisch korrekt wie signalstark - und vor allem: bereit für den Job als oberster Repräsentant und Bewahrer der zerstrittenen anglikanischen Weltgemeinschaft.

Rowan Williams

AP

Oberster geistlicher Leiter der Anglikanischen Kirche ist der Primas der Church of England. Bis Jahresende ist das noch Rowan Williams. Der „Primus inter Pares“ besitzt kein Weisungsrecht gegenüber den übrigen Kirchen der anglikanischen Kirchengemeinschaft.

Keine Nominierung

Doch die unvorsichtig angekündigte Nominierung eines Nachfolgers für den scheidenden Waliser Rowan Williams (62) in der vergangenen Woche blieb aus. Offenbar konnte sich die zuständige „Nominierungskommission der Krone“ nicht auf Sentamu (63) einigen - und auch nicht auf einen anderen möglichen Kandidaten. Womöglich habe der gebürtige Ugandese den Posten „zu offenkundig gewollt“, argwöhnen Beobachter. Andere führen seine angeblich angeschlagene Gesundheit oder seinen eher wenig diplomatischen Kurs gegenüber Homosexuellen an.

Das Kandidatenrennen ist jedenfalls neu eröffnet. Gehandelt werden freilich nur Bischöfe des evangelikalen Flügels. Denn gemäß einer Arithmetik, die seit dem Zweiten Weltkrieg Bestand hat, folgt auf einen anglokatholischen Primas (wie Williams) immer ein evangelikaler.

104. Nachfolger des Augustinus von Canterbury

Ein Kirchenoberhaupt zu küren und das Vorgeplänkel dazu sind ein spannendes Spiel,

John Sentamu

EPA/Nigel Roddis

John Sentamu, 63, Erzbischof von York.

bevor die Wahl getroffen ist. Wer also hat - außer Sentamu - Aussichten, der 104. Nachfolger des Gründungsheiligen Augustinus von Canterbury zu werden? Auch Richard Chartres (65) war schon einmal aus dem Rennen, hatte sich selbst quasi rausgenommen. Der konservative Bischof von London, Nummer drei der Hierarchie, gilt Experten als durchaus geeignet, aber zu alt, denn mit 70 Jahren müssen anglikanische Bischöfe ihr Amt niederlegen.

Womöglich zu wenig Zeit, in so bewegter politischer Lage Weichen zu stellen und Akzente zu setzen. Kirchenpolitisch und in repräsentativer Hinsicht - Chartres ist Hausherr von St. Paul’s Cathedral und (zuweilen königlicher) Zeremoniär in der Westminster Abbey - wäre er der Aufgabe mutmaßlich gut gewachsen. Auch wenn er sich während der Occupy-Besetzung vor „seiner“ Kathedrale 2011 nicht nur Freunde machte.

Interessante Kandidaten

Ein interessanter Kandidat ist der Bischof von Durham, Justin Welby. Der 56-jährige Eton-Schüler, Jurist und Theologe wurde erst 1993 zum Priester und 2011 zum Bischof geweiht - nach unter anderem elf Jahren als Manager im Ölgeschäft. Für ihn sprechen womöglich sein Realitätssinn und seine Weltläufigkeit, gegen ihn eine beargwöhnte mangelnde klerikale Erfahrung. Dabei weist seine Karriere als Seelsorger durchaus Stationen in sozialen Brennpunkten auf.

Der als wenig charismatisch beschriebene Bischof Graham James von Norwich (61) sieht eine „deutlich jüngere“ Figur als künftigen „Canterbury“ als sich selbst. Er kennt die Geschäfte im Lambeth Palace, dem Amtssitz des Primas, bereits aus anderer Perspektive: Vor seiner Bischofsernennung im Jahr 2000 war er von 1987 bis 1993 Sekretär zweier Erzbischöfe. Gegen den „grünen“ Bischof James Jones von Liverpool (64) sprechen ebenfalls sein Alter und eine Herzoperation im vergangenen Jahr, gegen den jungen Christopher Cocksworth von Coventry (53) eine aus seiner Diözese kolportierte Entscheidungsschwäche.

Kunst des Kompromisses

Der 105. „Canterbury“ muss auf jeden Fall auch die hohen Künste des immer weiter ausgedehnten Kompromisses und des Sitzens zwischen allen Stühlen mitbringen. Und „die Konstitution eines Ochsen und die Haut eines Rhinozeros“, wie Amtsinhaber Williams bei der Ankündigung seines Rücktritts meinte.

Die Nominierungskommission hat noch Zeit: Williams’ Amtszeit endet erst mit Jahresende, wenn er als Gelehrter zurück an die Universität Cambridge darf. Das Wahlgremium wird jedoch nicht noch einmal so forsch sein, seine Sitzung - und eine bevorstehende Ernennung - im Voraus anzukündigen. Die Entscheidung über das neue anglikanische Kirchenoberhaupt könnte also sehr überraschend öffentlich bekannt gegeben werden.

Alexander Brüggemann, KAP, religion.ORF.at