Die vielen Gesichter der Trauer

Es wird nicht weniger getrauert als früher, aber anders. Diese These vertritt Reiner Sörries in dem kulturgeschichtlichen Werk „Herzliches Beileid - Eine Kulturgeschichte der Trauer“.

Während der kirchlichen Feste Allerheiligen und Allerseelen suchen Jahr für Jahr zahlreiche trauernde Angehörige die Friedhöfe auf. Gräber werden hergerichtet und geschmückt, es wird gebetet und der Toten gedacht - oft ist es das einzige Mal im Jahr. Der Forschung zum Thema Trauer widmet sich Reiner Sörries, Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel und Professor für Christliche Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Erlangen, in seinem 2012 erschienenen Buch.

Dass dem Tod in der modernen Gesellschaft kein Platz mehr zugestanden wird, dass alles, was mit dem Sterben zusammenhängt, an den Rand gedrängt oder gleich verdrängt wird, ist Common Sense, geradezu eine Binsenweisheit. So hätte auch Allerheiligen die Funktion, an diesem einen Tag die Trauer über den Tod von Angehörigen sozusagen komprimiert zu vollziehen - damit man dann den Rest des Jahres davor Ruhe habe. Dem widerspricht Sörries: Der Tod, die Trauer seien noch stark in unserer Kultur vertreten, sie nehmen nur zum Teil neue Erscheinungsformen an. Tatsächlich wurde wohl noch nie so viel getrauert wie heute - sowohl in einer individuelleren Form als auch mehr denn je nach außen gerichtet.

„Trauer ist Teil der Unterhaltungsindustrie“

In einigen Bereichen, so der Autor, habe sich die Trauer sogar auf früher unbekannte Gebiete ausgedehnt. Als Beispiel führt Sörries das relativ neue Phänomen der medial gesteuerten Massentrauer an, wie sie etwa beim Tod von Prominenten, etwa Lady Diana, und auch nach Naturkatastrophen und Massakern auftritt. Sörries zitiert den Journalisten Henryk M. Broder, der 2011 einen Artikel mit „Trauer ist längst Teil der Unterhaltungsindustrie“ betitelte.

Generell gelte eine Trendumkehr von der privaten, zeremoniellen und gesellschaftlich reglementierten Trauer hin zur individuell erlebten und gestalteten, sozusagen selbst gewählten Trauer. Dem entspricht die abnehmende Bedeutung von äußerlichen Trauerzeichen wie Trauerkleidung und einer bestimmten Trauerzeit, während derer etwa Witwen in früheren Jahrhunderten starken gesellschaftlichen Einschränkungen unterworfen waren (Witwer weniger).

Trend: Trauern im Internet

Doch gebe es neue Felder für den Ausdruck von Trauer, so Sörries, allen voran das Internet: In Sozialen Netzwerken, auf Websites und in Blogs wird Trauerarbeit geleistet. Hier wird die Trauer in einem Ausmaß nach außen getragen, wie es weder eine Todesanzeige in einer Zeitschrift noch ein Partezettel je vermöchten.

Buchcover "Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer" von Rainer Sörries

Primus Verlag

Buchhinweis

Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer. Primus, 240 Seiten, 25,60 Euro.

Alles in allem werde die Art und Weise, wie getrauert wird, immer „unberechenbarer“, so der Autor. Die Menschen „trauern nicht nur wie sie wollen, sondern auch um wen sie wollen. Einer verordneten und normierten Trauer fügen sie sich nicht mehr.“

In einem historischen Abriss lässt Sörries die Entwicklung der Trauer, wie wir sie heute kennen, Revue passieren: von den ersten ritualisierten Begräbnissen vor rund 120.000 Jahren bis zur Emotionalisierung der (persönlichen) Trauer im 19. Jahrhundert. So begleitete die Geschichte der Trauer die zivilisatorische und kulturelle Entwicklung. Klar hebt der Autor hervor, dass Trauer, auch wenn die Fähigkeit dazu mittlerweile sogar Tieren zugesprochen wird, keine anthropologische, angeborene Konstante der Menschen ist, sondern ein Kulturphänomen.

Konventionen verschwinden

Am Beispiel der Trauerkleidung beschreibt Sörries, wie sehr sich Bräuche rund um die Trauer im Laufe der Zeit gewandelt haben. So fragt eine junge Frau auf einer allgemeinen Ratgeberwebsite, woher sie Trauerkleidung bekommen könne. Es stellt sich heraus, dass das sehr viel schwieriger ist als gedacht - zuletzt wird sie auf einer Brautmodenseite fündig. Aber mit der Aufhebung von Konventionen bei der Kleidung generell (jeder trägt mehr oder weniger, was er oder sie will) wurde es schwierig bis unmöglich, Konventionen überhaupt noch zu folgen. Schließlich: Schwarz tragen alle. So nimmt die „Befreiung“ von der - sicher früher extrem einschränkenden - Trauerkleidung Trauernden schließlich auch die Freiheit, sich für solche äußerlichen Zeichen des Kummers zu entscheiden.

Auch viele andere, zum Teil uralte Bräuche rund um den Umgang mit der Leiche, Beerdigung und Trauer gehen in unseren Tagen verloren. Einige verschwanden bereits seit der Mitte der vorigen Jahrhunderts: Wer kennt heute noch die Bedeutung einer Totenkrone oder weiß, was die Funktion einer Lichtmutter war?

Abschied in Etappen

In einzelnen Kapiteln werden außerdem moderne Totenriten vorgestellt, etwa „sozialistische“, „esoterische“ und „postmoderne Trauerkultur“. Selbstverständlich kommen auch die Aufgaben von Geistlichen und anderen traditionellen Seelsorgern in der „Kulturgeschichte der Trauer“ vor. Doch macht Sörries auch deutlich, dass Priester nicht mehr allein für die Tröstung der Trauernden zuständig sind - erwähnt seien als Beispiel etwa Therapeuten.

Auch der Zeitpunkt, um einen Angehörigen zu trauern, sei individueller geworden, so eine Aussage des Buches. Weil die Menschen immer älter werden, werde die Trauerarbeit sozusagen in Etappen geleistet - etwa bei einem hohen runden Geburtstag oder dem Eintritt in ein Altersheim. So habe man sich bereits teilweise emotional gelöst, wenn die eigentliche Trauerfeier beginnt.

Johanna Grillmayer, religion.ORF.at

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