Missbrauch: Forschungsprojekt zeigt „Erschreckendes“

Bei einem Symposium der Unabhängigen Opferschutzkommission („Klasnic-Kommission“) wurden die Ergebnisse einer Begleitstudie zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche vorgestellt. Sie ergeben „ein erschreckendes Bild“.

Ein Forschungsteam der Wiener Fakultät für Psychologie hat die Aufarbeitung kirchlicher Missbrauchsfälle durch die - die „Klasnic-Kommission“ - wissenschaftlich begleitet. Die Studie ergab, dass die Hälfte jener 185 Opfer, die einer Befragung zustimmten, unter einer „posttraumatischen Belastungsstörung“, an seelischen und körperlichen Folgen des erlittenen Missbrauchs sowie an Störungen im Beziehungsleben leiden.

Brigitte Lueger-Schuster, Psychologin

kathbild/Franz Josef Rupprecht

Brigitte Lueger-Schuster, Professorin am Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie

Vorgestellt wurden diese Ergebnisse am Dienstag von der Wiener Psychologin Brigitte Lueger-Schuster bei einem Symposium der Opferschutzkommission (UOK) im Wiener Haus der Industrie. Sie leitete das Forschungsprojekt „Psychotraumatologische Fragestellungen zu Gewalt und Missbrauch in der Katholischen Kirche“. Im Zuge der Studie füllten 185 von 448 erfassten Betroffenen, die sich dazu bereit erklärten, standardisierte klinische Fragebögen aus. Zudem wurden 48 Tiefeninterviews durchgeführt.

Rechte der Kinder wahren

„Die vorliegenden Forschungsergebnisse beinhalten Daten, die in ihrer Summe ein erschreckendes Bild ergeben“, resümierte Lueger-Schuster. Die Psychologin betonte die Notwendigkeit, stets eine gewaltfreie Erziehung einzufordern und die Rechte der Kinder zu wahren. Unter den in den 1950er Jahren und den folgenden Jahrzehnten Aufgewachsenen finden sich laut Lueger-Schuster heute „viele Menschen, die ebenfalls Missbrauch und Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlebten, aber weiterhin schweigen“.

Es sei somit mit einer „erheblichen Dunkelziffer“ zu rechnen. Auch diesen müsse die Chance einer Aufarbeitung des Erlittenen weiterhin offenstehen. Es sollten weiterhin „symbolische Entschädigungszahlungen“ erfolgen, sowie Traumabehandlung bzw. -psychotherapie ermöglicht werden - „immer im Wissen, dass Geld das Leiden nicht wieder gut machen kann“.

Albträume, Flashbacks, Depressionen

Lueger-Schuster über Details der Studie: Insgesamt leiden 152 (83 Prozent) der wissenschaftlich erfassten Betroffenen unter einzelnen Symptomen der „posttraumatischen Belastungsstörung“ wie Albträume, Flashbacks oder physiologische Reaktionen. Deutlich erhöht seien Werte in Bezug auf Skalen über „Paranoides Denken“, „Depressivität“ und „Somatisierung“.

Die Täter gingen in den allermeisten Fällen einzeln vor, es habe aber auch Übergriffe durch zwei oder mehr Kirchenmitarbeiter gegeben. „Diese sind in allen Kirchenämtern zu finden“, so Lueger-Schuster. Den größten Anteil stellten Ordensangehörige, die in katholisch geführten Institutionen oft als Erzieher fungierten, sowie Pfarrer. Schauplätze waren meist Heime und Internate, aber auch kirchlich geführte Schulen sowie Pfarren.

Körperliche und seelische Gewalt

Als Formen der Gewalt, denen die Kinder und Jugendlichen ausgesetzt waren, nannte Lueger-Schuster körperliche Gewalt wie Schläge oder Schlafentzug, sexuelle Gewalttaten wie Vergewaltigungen, erzwungener Oralsex und intime Berührungen, sowie psychische Gewalt wie Isolation oder Demütigungen.

Die meist nachhaltigen Folgen für viele Untersuchte: Intrusionen (das Wiedererinnern und Wiedererleben von psychotraumatischen Ereignissen), Scham- oder Schuldgefühle und Schlafschwierigkeiten. Bei den psychosozialen Folgen nannten Betroffene Beziehungs- und sexuelle Probleme und Brüche in der biografischen Entwicklung in Bezug auf Ausbildung oder Berufsweg.

Mehr Studien und Bewusstsein nötig

Detaillierte Studien zur Erfassung von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung sowie deren psychopathologische Konsequenzen fehlen laut Lueger-Schuster bisher weitgehend: „Ohne derartiges Wissen wird eine bedarfs- und bedürfnisgerechte psychosoziale und medizinische Versorgung nur schwer sachgerecht umzusetzen sein.“

Vor dem Hintergrund selbst erlittenen sexuellen Missbrauchs appellierte der evangelische Pfarrer Jürgen Öllinger an die Teilnehmer des Symposiums: „Lassen Sie keine Verharmlosung zu“. Er sei als 11-Jähriger sexuell gedemütigt worden und hatte mit 16 Jahren Mordfantasien gegenüber seinen Peinigern, berichtete Öllinger, der 1984 im Stiftsgymnasium Kremsmünster maturierte. Es folgte langes „Vergessen“, erst als 40-Jähriger habe er sich dem Erlittenen stellen können - auch mittels Gesprächen mit den damaligen Tätern.

„Juristische Verharmlosung“

Der nun in Villach wirkende evangelische Pfarrer sprach auch vom „Problem der juristischen Verharmlosung“, es gebe fast keine verurteilten Täter, da - nicht zuletzt wegen Verjährung - selten Anklage erhoben werde. Auch in der Gesellschaft herrsche nach wie vor Verharmlosung etwa im Blick auf Gewalt in der Familie vor, kritisierte Öllinger.

Waltraud Klasnic

APA/Herbert Pfarrhofer

Waltraud Klasnic

Auch Waltraud Klasnic, die Leiterin der Kommission, forderte am Dienstag „klare gesamtgesellschaftliche Signale und Initiativen“ für den Opferschutz sowie Bemühungen um öffentliche Bewusstseinsbildung und Prävention.

In den drei Jahren ihres Bestehens habe die mit anerkannten Fachleuten besetzte Kommission in 932 Beschlüssen insgesamt 12,2 Millionen Euro an finanziellen und 34.000 Stunden an therapeutischen Hilfestellungen zuerkannt - nur 20 Fälle seien abgelehnt worden. „Wir sind stolz auf das, was wir getan haben“, sagte Klasnic. Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder seien „an die Grenzen unserer Möglichkeiten gegangen“. Doch, so Klasnic wörtlich: „Wir tun es uns an aus vollem Herzen und Überzeugung, um Opfern zu helfen.“

Opferschutz als „Daueraufgabe“

Die frühere steirische Landeshauptfrau bezeichnete es auch als Erfolg, dass sich Landes- und Bundeskommissionen nach dem Vorbild der Klasnic-Kommission gebildet hätten. Auch wenn Österreich im internationalen Vergleich „vorbildlich“ agiere, muss es das Ziel sein, Opferschutz und Prävention als „Daueraufgabe“ für die Zukunft und als gesamtgesellschaftliches Anliegen zu etablieren. Dem sollten auch die beim Symposium vorgelegten Vorschläge dienen.

Im Blick auf bereits geschehene Missbrauchsfälle - die Opfer sind laut Klasnic hauptsächlich Kinder der 1950er und 1960er Jahre - fordert die UOK „eine angemessene und würdige Veranstaltung mit Opfervertretern“, klare Entschuldigungen und einen glaubwürdigen Dialog, weitere Entschädigungszahlungen und therapeutische Begleitung für alle Opfer sowie „eine breite soziologische, sozialpsychologische, therapeutische, juridische, organisations- und kriminalsoziologische und historische Aufarbeitung der Opferfälle“.

Darüber hinaus urgiert die UOK die Einrichtung einer Hotline sowohl für Opferschutz als auch Prävention, die Vernetzung bestehender Opferschutzeinrichtungen und die Nutzung von „Social Media“ zur Sensibilisierung. Wichtig sei es, beim Thema Missbrauch Zivilcourage zu zeigen, appellierte Klasnic.

Einrichtung einer „Präventionsplattform“

Die geforderte „Präventionsplattform“ solle auf Initiative der Bundesregierung innerhalb eines Jahres gebildet werden, angehören sollten ihr öffentliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen wie Gebietskörperschaften, Sport- und Jugendvereine, die Justizverwaltung, Einrichtungen der Altenbetreuung und der sozialen Wohlfahrt. Aufgaben sollten jährliche Konferenzen ebenso sein wie die Einrichtung eines wissenschaftlich-fachlichen Beirats und regelmäßige Berichte an die zuständigen Organe der Volksvertretung.

Das ursprünglich gemeinsam mit dem Parlament und im Hohen Haus geplante Symposium war nach einer kurzfristigen Absage von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer ins Wiener Haus der Industrie verlegt worden. Prammer hatte mit der Begründung abgesagt, dass die Vertrauensbasis mit Betroffenen fehle.

Daher fordert die „Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt“, die das Symposium am Dienstag als „peinlich einseitig“ bezeichnete, jetzt eine gemeinsame Missbrauchskonferenz. Die Plattform wies am Dienstag in einer Aussendung außerdem darauf hin, dass „zuletzt auch noch Prof. Beier von der Berliner Charité - der einzige verbleibende kirchenunabhängige Referent - seine Teilnahme an dieser Veranstaltung abgesagt“ habe.

Gemeinsame Konferenz angeregt

Für den Vertreter der Plattform, Sepp Rothwangl reichen die bisher gesetzten Maßnahmen nicht aus. „Mit der kircheneigenen Klasnic-Kommission ist jetzt eine kirchliche Stelle zur Bearbeitung des Missbrauchsthematik errichtet, was grundsätzlich ja positiv ist, aber nicht reicht“, so Rothwangl. „Es muss nun endlich eine unabhängige Aufklärungsinstitution eingerichtet werden. Wir regen daher eine gemeinsame Konferenz an, wo Betroffenen, Experten, Politik und Täterseite zu Wort kommen“.

Die Initiative „Religion ist Privatsache“ plädiert indes für eine staatliche Intervention. Der Staat müsse einen Entschädigungsfonds errichten, denn „sowohl der Staat als auch die österreichische Gesellschaft haben jahrzehntelang beide Augen zugedrückt - gewusst haben es aber alle“, so Vorstandsmitglied Eytan Reif.

Kürzlich war bekannt geworden, dass die Unabhängige Klasnic-Kommission nicht so unabhängig zu sein scheint, wie ihr Name suggeriert. Auch die Daten der Betroffenen liefen letztlich bei der Erzdiözese Wien zusammen - mehr dazu in: Missbrauch: Opfer müssen Einsicht in ihre Daten erhalten.

religion.ORF.at/KAP

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