Franziskus: Vorgeschmack auf die Zukunft

Der neue Papst der katholischen Kirche kommt aus Lateinamerika. Diese Wahl kam für viele überraschend. Dennoch spiegeln sich in ihr eine Reihe kirchlicher Trends wieder.

Seit Mittwochabend hat die katholische Kirche das erste Mal seit 1.272 Jahren einen Papst an ihrer Spitze, der nicht in Europa geboren wurde. Und es ist das erste Mal, dass das katholische Oberhaupt aus Lateinamerika stammt. Die Wahl von Jorge Mario Bergoglio auf den römischen Bischofsstuhl war für viele Vatikan-Kenner eine kleine Überraschung. Entsprechend schwer scheint es Berichterstattern und Experten zu fallen, den neuen Papst und sein zukünftiges Pontifikat einzuordnen.

Keine Neuerungen

Dabei könnte man Franziskus verhältnismäßig einfach den Mantel des Konservativen umhängen. In theologischen Fragen mag dem 76-Jährigen zwar eine zarte Offenheit und Dialogbereitschaft nachgesagt werden. In Fragen zu Zölibat, Homosexualität oder gar Frauenordination werden vom neuen Papst aber kaum überraschende Schritte zu erwarten sein.

Auch ein Naheverhältnis zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie wird man dem jetzt ehemaligen Erzbischof von Buenos Aires nicht nachsagen können. In einer Zeit, als argentinische Befreiungstheologen wie der Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel von der argentinischen Militärjunta verschleppt und vielfach getötet wurden, hielt sich Bergoglio auffallend im Hintergrund. Kritiker werfen dem damaligen Leiter des Jesuitenordens in Argentinien sogar vor, mit dem Regime kollaboriert zu haben.

Kampf für Gerechtigkeit

Auf der anderen Seite hätte Bergoglio mit einem sozialen Engagement, wie er es in den letzten Jahren an den Tag gelegt hatte, vor 35 Jahren durchaus ins Visier der Machthaber kommen können. Immer wieder trat der Erzbischof für die Rechte der Ärmsten in der argentinischen Gesellschaft ein – für jene, die vom wirtschaftlichen Aufschwung Argentiniens vergessen wurden oder gar zu Opfern desselben wurden. Dass er dabei auch den Kontakt zu linksgerichteten Organisationen nicht scheute, mag nur bedingt in das Bild eines konservativen Kirchenmannes passen.

Jorge Borgoglio wäscht und küsst die Füße von Armen und Drogensüchtigen, 20. März 2008, in Buenos Aires

APA/EPA/EFE Files/Enrique Garcia Medina

Mehrmals im Jahr besuchte Bergoglio als Erzbischof von Buenos Aires Menschen am Rande der Gesellschaft

Der Begründer der internationalen Hilfsorganisation „Red Solidaria“ (Netz der Solidarität), Juan Carr, bezeichnete Bergoglio als „Kandidat für die Heiligsprechung“. Und die linke Kooperative „La Alameda“, die sich vor allem für ausgebeutete Textilarbeiter einsetzt, gratuliert dem neuen Papst auf ihrer Website zur Wahl. Vor einem Jahr hatten Bergoglio und der „La Alameda“-Präsident und bekennende Marxist Gustavo Vera in Buenos Aires eine Messe gegen Sklavenarbeit organisiert.

Konservative Werte und starke Worte

Zugleich stellte sich Bergoglio aber nicht nur mit sozialen Anliegen gegen die Regierung seines Heimatlandes. Als das argentinische Parlament 2010 auf Betreiben von Präsidentin Christina Fernandez de Kirchner ein Gesetz zur Homosexuellenehe beschloss, gehörte der Erzbischof von Buenos Aires zu den entschiedensten Kritikern. „Das ist nicht einfach nur ein Gesetz. Das ist ein Schachzug vom Vater der Lügen, um die Kinder Gottes zu verwirren und zu täuschen“, schrieb Bergoglio in einer Stellungnahme kurz vor der Abstimmung – Worte, die europäische Bischöfe wohl nicht in dieser Form wählen würden.

Demonstration in Buenos Aires gegen die Homo-Ehe im Juli 2010

Reuters/Enrique Marcarian

2010 demonstrierten Tausende Argentinier gegen die Legalisierung der Homoehe

Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste in einem Protestzug vor das argentinische Parlament. 60.000 Menschen nahmen an dieser Demonstration teil, die am Vorabend der Abstimmung von der katholischen Kirche gemeinsam mit evangelikalen Gruppierungen veranstaltet wurde. Berührungsängste zu Gruppen außerhalb der katholischen Kirche scheinen Bergoglio hier nicht geplagt zu haben – auch das mag bei einem konservativen katholischen Kirchenmann überraschen.

Weltkirche mit südlicher Prägung

Das alles passt allerdings erstaunlich gut in das Bild der katholischen Kirche der Zukunft, wie es der Amerikaner John L. Allen, Vatikan-Korrespondent für die Zeitung „National Catholic Reporter“, in seinem Buch „Das neue Gesicht der Kirche“ zeichnet. Laut Allen wird die zukünftige Kirche stark von den Ländern des Südens geprägt sein. Unter dieser Prägung werde die herkömmliche Einteilung in konservativ - liberal, links - rechts und traditionell - progressiv aber nur noch bedingt gelten.

Für die kirchliche Morallehre könnte das bedeuten, dass diese immer stärker in Widerspruch zu westlich-liberalen Einstellungen gerät. In Fragen der sozialen oder ökologischen Gerechtigkeit dagegen könnte die Kirche wohl tatsächlich eine progressive Vorreiterrolle einnehmen. Unter dem Schlagwort „evangelikaler Katholizismus“ beschreibt Allen, wie sich die katholische Kirche wieder auf die traditionelle kirchliche Lehre beruft und zugleich wieder verstärkt auf der (welt-)politischen Bühne auftritt. In die Art, wie sich viele Katholiken in sozialen und kulturellen Aspekten engagieren, werde „ein robusterer evangelikaler Ton einziehen“, so Allen.

Es ist in diesem Fall wohl nicht ganz verkehrt zu vermuten, dass sich in Jorge Manuel Bergoglio, dem neuen Papst Franziskus, seinem Engagement, seinen Werten und Worten bereits ein Stück weit die Zukunft der katholischen Kirche spiegelt – eine Kirche, die in den nächsten Jahrzehnten fraglos Veränderungen entgegengeht. Was diese für die Anliegen vieler europäischer Katholiken und die kirchlichen Baustellen der „Alten Welt“ bedeuten werden, steht auf einem anderen Blatt.

Martin Steinmüller, religion.ORF.at