75 Jahre Novemberpogrome: Die Mitschuld der Kirche

Die katholische Kirche müsse sich ihrer „judenfeindlichen Schuldgeschichte“ bewusst sein, so Markus Himmelbauer vom Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit, angesichts des 75. Jahrestags der Novemberpogrome.

Heute oft immer noch mit dem Nazi-Ausdruck „Reichskristallnacht“ bezeichnet, bedeuteten die Novemberpogrome für viele Historiker den Beginn der Schoa, der gezielten Auslöschung der jüdischen Bevölkerung. In Österreich wurden in der Nacht auf den 10. November 1938 30 Juden getötet, 7.800 verhaftet und aus Wien rund 4.000 sofort ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Im gesamten „Deutschen Reich“ wurden Tausende Synagogen und Geschäfte niedergebrannt, 91 Personen getötet, 20.000 verhaftet.

Die gezielten Ausschreitungen nach der Aktivierung der SS-Ortsgruppen beschränkten sich allerdings nicht auf eine Nacht, sondern dauerten mehrere Tage an. Allein im „Kreis Wien I“ wurden 1.950 Wohnungen zwangsgeräumt und 42 Synagogen in Brand gesteckt und verwüstet. Hunderte Juden begingen Selbstmord.

Silhouette eines Mannes vor einem Gittertor mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei"

Reuters/Michaela Rehle

Das Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Rund 4.000 Juden wurden in der Pogromnacht aus Wien dorthin deportiert.

Auch in den Bundesländern kam es zu zahlreichen Übergriffen. Die Synagogen in Eisenstadt, Berndorf, Vöslau, Baden, Klagenfurt, Linz und Graz fielen dem Pogrom zum Opfer. In Baden wurden alle Juden verhaftet, in St. Pölten 137, in ganz Salzburg 70, in Klagenfurt 40. Ein Zehntel der rund 650 bis dahin in Oberösterreich lebenden Juden wurde bereits am 8. November festgenommen.

Kirchlichen Anteil an Holocaust bekennen

Zwar sei auch Christen durch das NS-Regime Gewalt widerfahren, doch die Erinnerung daran dürfe kein Freibrief sein, „die Kirche als Ganze zur Märtyrerin im NS-Staat zu machen und die Verfolgung von Christinnen und Christen in die Nähe der Schoa zu rücken“. Das betonte Himmelbauer in einem Beitrag in der Wochenzeitung „Die Furche“.

Es sei gerade die Institution Kirche gewesen, „die jahrhundertelang für Gewalt gegen Andersdenkende verantwortlich zeichnete“. Jedes Gedenken im kirchlichen Bereich müsse die „Lehre der Verachtung des Judentums“ und deren Anteil auf dem Weg zur Schoa selbstkritisch bekennen, so Himmelbauer. Christliche Bekennerinnen und Bekenner dürften nicht über die judenfeindliche Schuldgeschichte der Kirchen hinwegtäuschen. Nur im Bewusstsein dieser könne im Blick auf die Schoa das rechte Maß bewahrt werden, so Himmelbauer.

„Verwüstung“ und „Unwetter“

Der Begriff „Pogrom“ kommt aus dem Russischen und bedeutet „Verwüstung“ und „Unwetter“. Die NS-Propaganda versuchte, die Aktion als spontane Antwort der Bevölkerung auf den Tod des deutschen Diplomaten Ernst von Rath auszugeben. Dieser war am 7. November 1938 in Paris von einem 17-jährigen Juden namens Herschel Grynszpan niedergeschossen worden und starb später.

Grynszpan hatte ursprünglich ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Paris geplant, mit dem er gegen die Abschiebung Tausender polnischstämmiger Juden protestieren wollte. Statt des Botschafters trafen seine Schüsse jedoch den jungen Botschaftssekretär Rath. Für die NS-Führung ein willkommener Anlass, die Vorgangsweise gegen die jüdische Bevölkerung unter dem Vorwand des „Zorns der kochenden Volksseele“ zu verschärfen.

Abgebrochener Grabstein mit der Aufschrift "Friede deiner Asche"

Reuters/Fabrizio Bensch

Jüdischer Grabstein

Hermann Göring, Verantwortlicher für den Vierjahresplan des „Deutschen Reiches“, erlegte den Juden nach dem Pogrom eine „Sühneabgabe“ von einer Milliarde Reichsmark auf. Sie wurde später noch um 25 Prozent erhöht und war binnen eines Jahres zu zahlen. Für die angerichteten Schäden musste die jüdische Bevölkerung ebenfalls aufkommen.

Zahlreiche Gedenkveranstaltungen

Anlässlich des Gedenktages finden in Österreich mehr als 130 Veranstaltungen von über 100 Organisationen statt. Zusammengefasst sind diese in einer Broschüre des Parlaments. Die Veranstaltungen zeichnen sich durch sehr unterschiedlichen Charakter aus. Der Bogen reicht von Ausstellungen über Lesungen, Vorträge und Filmpräsentationen bis zu neuen Ansätzen.

42 Synagogen in Wien zerstört

Im Rahmen der Bedenkwoche „Mechaye Hametim - Der die Toten auferweckt“ veranstaltete der Koordinationsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit im Vorfeld einen Lokalaugenschein zu ehemaligen Synagogen im zweiten Bezirk in Wien. Alleine in Wien wurden im Zuge der Novemberpogrome 1938 42 Synagogen und Gebetshäuser von den Nationalsozialisten zerstört. Die meisten von ihnen standen im zweiten Bezirk, dem Zentrum jüdischen Lebens, in dem zu Beginn des vorigen Jahrhunderts über 200.000 Juden lebten.

Das jüdische Leben sei nach dem Jahre 1938 nie wieder so gewesen, wie es zum Beginn des Jahrhunderts einmal war, so Himmelbauer im Kathpress-Gespräch. Durch das Verschwinden des jüdischen Lebens in Wien seien nicht mehr zu schließende „Lücken“ in der Wiener Gesellschaft entstanden. Oft erinnert auch nur noch eine kleine Plakette an der Fassade eines Büro- oder Wohngebäudes daran, dass früher einmal eine Synagoge an dieser Stelle stand.

Rückstellungen noch immer nicht abgeschlossen

Nach der Zerstörung der jüdischen Gebetshäuser wurden diese von den Nationalsozialisten meistens als Grünfläche deklariert, was die „Arisierung“ und den späteren Weiterverkauf der Flächen ermöglichte. Viele der Ruinen lagen so in der Zeit zwischen 1938 und 1945 jahrelang brach und stellten hässliche Lücken zwischen den Häusern und Geschäften dar.

Die Rückstellung der geraubten Flächen an die Israelitische Kultusgemeinde verlief nach 1945 äußerst schleppend, auch deshalb, weil beim Verkauf durch die Nationalsozialisten geschickt verschleiert wurde, wem der Grund ehemals gehörte. Noch heute seien nicht alle gestohlenen Flächen in Wien zurückgegeben worden, ist sich Himmelbauer sicher. Die letzte öffentlich bekannte Rückstellung einer ehemaligen Synagoge im zwanzigsten Bezirk datiert auf das Jahr 2003.

religion.ORF.at/APA/KAP

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Radio-Tipp:

Ö1 „Erfüllte Zeit“: 75 Jahre Novemberpogrome 1938