Studie: Antisemitismus in Europa auf dem Vormarsch

In einer Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte, die im November 2013 in Wien veröffentlicht worden ist, geben drei Viertel der befragten Juden an, vermehrt Feindseligkeiten gegenüber ihrer Gruppe zu beobachten.

Fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Antisemitismus in Europa wieder auf dem Vormarsch - und das besonders in Ungarn, Frankreich und Belgien: Zu diesem Ergebnis kommt die Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte (FRA). Demnach beobachten drei von vier befragten Juden in der EU, dass die Feindseligkeiten gegenüber ihrer Gruppe in den vergangenen fünf Jahren zugenommen haben.

Angst vor körperlichen Angriffen

Besonders deutlich scheint diese Wahrnehmung in Frankreich und Belgien (je 88 Prozent) sowie in Ungarn (91 Prozent) zu sein. In Ungarn ist seit April 2010 die rechtsextreme Jobbik-Partei stark im Parlament vertreten. Europaweit fürchtet sich knapp die Hälfte der Umfrageteilnehmer vor Beleidigungen in der Öffentlichkeit, ein Drittel geht gar mit der Angst vor körperlichen Angriffen auf die Straße.

FRA-Direktor Morten Kjaerum sagte: „76 Prozent der Personen, die in den letzten fünf Jahren antisemitischen Angriffen ausgesetzt waren, gaben an, die Vorfälle nicht angezeigt zu haben.“ Die Ergebnisse zeigten Handlungsbedarf auf, sagte Kjaerum. Man könne nicht weiter leugnen, dass es immer noch Antisemitismus in der EU gebe. Speziell für die Polizei müsse es Weiterbildungen geben. Besonders beeindruckt zeigte sich Kjaerum davon, dass 30 Prozent der Befragten ernsthaft in Betracht ziehen würden, aufgrund ihrer Angst vor Antisemitismus ihr Land zu verlassen.

Kaum Anzeigen

Die Studie wurde in acht EU-Mitgliedsstaaten durchgeführt, in denen laut Schätzungen 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Union leben: Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Lettland, Schweden und Ungarn. Das Besondere an der Untersuchung ist laut Kjaerum, dass diesmal wirklich die betroffene Minderheit befragt wurde, in welcher Form und wie stark sie die Angst vor antisemitischen Angriffen erlebt. 38 Prozent der Teilnehmer gaben an, das Tragen von Attributen, die sie als Juden identifizieren könnten, zu vermeiden.

Kjaerum verwies auf die deutlichen Unterschiede der Ergebnisse der einzelnen Länder, vor allem in Bezug auf die Bereitschaft, einen Vorfall anzuzeigen: „Wir sollten uns an den Ländern orientieren, die eine hohe Anzeigenrate haben.“ So wird laut den Erhebungen beispielsweise in Großbritannien und Deutschland deutlich mehr angezeigt als etwa in Ungarn.

Antisemitismus „demokratische Angelegenheit“

Serge Cwajgenbaum, Generalsekretär des Jüdischen Europakongresses (EJC), saß ebenfalls auf dem Podium und bedankte sich bei der FRA: „Die FRA hat damit gute Arbeit geleistet und hilft uns, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen.“ Antisemitismus sei keine jüdische, sondern eine demokratische Angelegenheit, betonte Cwajgenbaum und rief die Politik zum Handeln auf. „Ich persönlich lebe nicht in Angst, doch als Bürger der Europäischen Union habe ich Angst vor den Zeiten, die kommen werden.“

„Uns wird immer gesagt, wir sollten uns am Ausgang der streng gesicherten Synagogen schnellstmöglich zerstreuen“, wurde eine französische Jüdin zitiert. „Meines Wissens ist das in Kirchen, Tempeln oder Moscheen nicht der Fall.“ Aus Sicht von 75 Prozent der knapp 6.000 befragten Juden kommt Antisemitismus aber primär im Internet - zum Beispiel auf Videoplattformen wie YouTube - und in den Medien zum Ausdruck.

Österreich nicht verschont

Der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), Ariel Muzicant, als Vizepräsident des EJC bei der Präsentation vertreten, erinnerte daran, dass vor allem das Internet anfällig für antisemitische Inhalte sei und spielte auf die Seite Alpen-donau.info an, die 2011 vom Netz genommen wurde. „Wir hatten in Österreich ein Problem mit einer extrem rechten, extrem brutalen Internetseite, die daher geschlossen werden musste. Die Redefreiheit endet dort, wo Hasskriminalität beginnt“, sagte Muzicant.

An der Onlineumfrage beteiligte sich im Herbst 2012 knapp 6.000 Juden aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Ungarn, Italien, Lettland und Schweden. Auf diese acht Länder entfallen schätzungsweise 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Europa.

religion.ORF.at/AFP/APA

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