„Rückblickend sehe ich manche Situationen anders“

Christian Haidinger, Vorsitzender der Superiorenkonferenz der katholischen Männerorden, spricht mit religion.ORF.at offen über seine Visionen für die Kirche und seine Sicht auf die Missbrauchsfälle in Stift Kremsmünster, wo er selbst 48 Jahre lang gelebt hat.

religion.ORF.at: Herr Haidinger, wenn es um die Ordensgemeinschaften geht, ist ein Thema immer im Gespräch: Die Frage des Nachwuchses. Woran liegt es, dass sich heute nicht mehr so viele Menschen für ein Leben in einem Orden entscheiden wie früher?

Christian Haidinger: In den vergangenen Jahrzehnten haben einfach massive gesellschaftliche Umbrüche stattgefunden. Man braucht sich nur meine eigene Situation anschauen, damals, als ich 1964 in den Orden eingetreten bin – und ich denke für sehr viele, vor allem in ländlichen Gebieten, war das sicher ähnlich. Ich komme aus einer bäuerlichen Familie, fünf Kinder, kirchlich sozialisiert, Sonntagsmesse war selbstverständlich, eine aktive Jugendgruppe – wo gibt es das denn heute noch?

In diesem Zusammenhang werden immer wieder die vielen verschiedenen Lebensentwürfe ins Treffen geführt, die den Menschen heute im Gegensatz zu früher offenstehen. Welche Lebensentwürfe sind denn damit eigentlich gemeint?

Das fängt schon bei den Bildungschancen an. Damals war das Emanzipationsvorgang, weil man als Kind vom Land nur ins Gymnasium gehen, wenn man aus einer reichen Akademikerfamilie gekommen ist oder eben, wenn man Pfarrer werden wollte. Bei den Frauen ist es noch massiver, deshalb ist das Nachwuchsproblem bei den Frauenorden auch noch größer. Damals konnte man als Mädchen gerade einmal Frisörin oder Verkäuferin werden oder eine Haushaltsschule besuchen. Diese Veränderungen spielen sicher eine große Rolle, neben der immer weniger werdenden kirchlichen Sozialisierung.

Abtpräses Haidinger

Ordensgemeinschaften Österreich/Katrin Bruder

Christian Haidinger

Würden Sie selbst, wenn Sie heute noch einmal jung wären, den gleichen Weg einschlagen?

Das kann ich nur aus meiner heutigen Sicht beurteilen und da muss ich sagen, dass ich jetzt 50 Jahre im Kloster bin und auf eine sehr erfüllte Zeit zurückblicken kann. Ich habe damals ja eigentlich auch etwas anderes im Sinn gehabt: Ich wollte Bauer werden. Und dann hat ein Lehrer in der sechsten Klasse Volksschule mit meinem Vater ausgehandelt: „Du, den schicken wir ins Gymnasium.“ Aber trotzdem blicke ich auf ein erfülltes Leben zurück. Ich habe zwar auch manche Krisen durchgemacht, aber ich kann wirklich sagen, dass ich es nie in Frage gestellt habe, auch wenn es mir manchmal dreckig gegangen ist.

Sie waren lange Zeit im Stift Kremsmünster. Einer Ihrer damaligen Mitbrüder ist - nicht rechtskräftig - wegen Missbrauchs zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Wie sehen Sie diese Zeit aus heutiger Sicht?

Ich war 41 Jahre dort Mönch und sieben Jahre Schüler, also insgesamt 48 Jahre. Pater Alfons war in der achten Klasse mein Lehrer und dann 28 Jahre mein Kollege. Für mich war er ein Vorbild, weil er einer der besten Lehrer war, gescheit, ein toller Musiker, ich hab immer zu ihm aufgeschaut. Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Und dann bin ich natürlich aus allen Wolken gefallen. Rückblickend, nachdem das alles ans Licht gekommen ist, sehe ich manche Situationen ganz anders.

Biografie

Christian Haidinger, 69, ist seit 25. November 2013 Erster Vorsitzender der Superiorenkonferenz der österreichischen Männerorden.

Haidinger wurde 1944 in Siezenheim (Salzburg) geboren und trat 1964 in das Stift Kremsmünster ein, wo er 1965 die Profess ablegte. 1969 wurde er zum Priester geweiht. Seit 2005 ist er Abt von Stift Altenburg, seit 2009 Abtpräses der Österreichischen Benediktinerkongregation.

Welche Situationen?

Ein Beispiel: Damals hatten die ersten Schüler schon einen eigenen Plattenspieler. Das war erlaubt, aber eben nur zu bestimmten Zeiten. Einmal hat er zu einem Schüler, der sich nicht daran gehalten hat, gesagt: „Ich hab dich jetzt schon zwei Mal ermahnt. Wenn ich dich ein drittes Mal erwisch, hau ich dir den Plattenspieler beim Fenster raus.“ Tatsächlich, zwei Tage später ist der Plattenspieler aus dem zweiten Stock aus dem Fenster geflogen.

Und in Bezug auf die Missbrauchsfälle?

Da gibt es auch eine Situation, an die ich mich erinnere. Ich war damals als junger Lehrer sehr restriktiv, was das Fernsehen angeht. Auch das war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Und an einem Abend, an dem eben kein Fernsehen erlaubt war, habe ich am Gang zwei Burschen erwischt, die sich in ihren Schlafsaal schleichen wollten. Ich habe sie dann in mein Büro geholt – auch nicht die richtige Erziehungsmaßnahme, das gebe ich schon zu – und gesagt, sie müssen jetzt sitzen bleiben, bis sie mir sagen, wo sie waren. Nach einer halben Stunde haben sie mir dann gesagt, dass sie beim Pater Alfons waren, zum Fernsehen, ein Krimi.

Hat er das abgestritten?

Am nächsten Tag in der Früh hab ich ihn gefragt. Er hat nur gelacht und gesagt: „Ja, weil du ja so streng bist beim Fernsehen. Aber gib ihnen eine gescheite Strafe. Ich hab ihnen gesagt: ‚Ihr könnt kommen, aber wenn er euch erwischt, müsst ihr die Strafe ausbaden‘.“ Ich hab mir zwar gedacht, der spinnt, aber ich habe es ihm geglaubt. Rückblickend sehe ich das anders.

Haben Sie mit ihm gesprochen, seit der Fall öffentlich wurde?

Ich habe einige Gespräche mit ihm gehabt, er war ja auch einige Male bei uns im Stift Altenburg. Er gibt es zu, aber ich habe immer den Eindruck gehabt, dass er nicht wirklich einsichtig ist.

Wie geht es Ihnen persönlich damit?

Ich habe viel gelernt. Heute würde ich so etwas sicher anders bewerten.

Zurück zum Ordensnachwuchs - sind Schließungen von Ordensniederlassungen in Österreich in näherer Zukunft notwendig?

Das kann durchaus sein. Ich denke mir manchmal, wir müssen eigentlich dankbar sein, dass Joseph II. 600 Klöster aufgelöst hat. Die wären alle eines elendigen Todes gestorben. Man muss das aber auch weltweit sehen: Im deutschsprachigen Raum mussten in der jüngeren Vergangenheit drei Klöster geschlossen werden, dafür sind weltweit zehn neue gegründet worden. Und auch in Österreich gibt es das: Maria Roggendorf und Gut Aich sind zwei Benediktinerklöster, die erst in den vergangenen zehn Jahren gegründet wurden. Davor war Jahrhunderte nichts.

Wie ihr Vorgänger an der Spitze der Männerorden, Propst Fürnsinn aus Herzogenburg, haben auch sie schon öfter mit öffentlichen Aussagen aufhorchen lassen, die nicht unbedingt der Linie des Vatikans entsprechen. Hat man es da als Ordensmann leichter als zum Beispiel ein Bischof?

Ja natürlich. Ein Bischof muss sich ja sofort Rom gegenüber rechtfertigen.

Ein Ordensmann nicht?

Nicht unmittelbar gegenüber der Bischofskongregation. Ich weiß ja auch, dass unser Oberster im Benediktinerorden, Abtprimas Notker Wolf, sich noch ganz andere Dinge zu sagen traut als ich. Ich glaube, da haben wir als Orden in gewisser Weise Narrenfreiheit. Wer soll denn mir etwas sagen? Ja, der Bischof könnte sagen „Geh sei a bisserl vorsichtiger“, aber ich habe auch so etwas bisher noch nie erlebt.

Heißt das, dass jemand, der von einer hohen Funktion in einem Orden in ein Bischofsamt berufen wird, seine eigene Meinung im Orden lassen muss?

Also ich glaube schon, dass ich mich als Bischof ein bisschen vorsichtiger äußern müsste. Oder zumindest müsste ich dazusagen, dass das meine persönliche Meinung und nicht die der Kirche ist. Zum Beispiel wenn es um Frauen in Weiheämtern geht. Unsere Bischöfe berufen sich in diesen Dingen ja dann immer auf die Weltkirche. Natürlich ist das auch wichtig, aber die Probleme in einem afrikanischen oder asiatischen Land sind ja ganz andere als bei uns. Wir müssen auch regional denken und hier und jetzt Lösungen suchen.

Mit dem Frauenpriestertum haben sie also kein Problem?

Überhaupt keines.

Wie sieht es mit verheirateten Priestern aus?

Die gibt es ja schon in der katholischen Kirche. Wir holen Priester aus den unierten Kirchen nach Österreich und setzen sie in Pfarren, wo der alte Pfarrer gehen musste, weil er mit einer Frau liiert ist. Wie sollen denn das die Leute begreifen? Ich glaube, dass es andere Zulassungsbedingungen zum Priesteramt geben muss, vor allem angesichts des Priestermangels, auch wenn das Problem allein dadurch vielleicht nicht zu lösen ist. Gleichzeitig bin ich aber überzeugt – und hoffentlich ist mein Leben auch ein Zeugnis dafür -, dass es das Charisma des zölibatären Lebens gibt, dass das eine persönliche Berufung sein kann und dass das auch ein Zeichen für die Welt und die Menschen ist, wenn das einer versucht, glaubwürdig zu leben.

Viele erwarten sich in Dingen wie diesen große Veränderungen - auch in dogmatischer Hinsicht - von Papst Franziskus. Andere meinen, dass sich seit Beginn seines Pontifikats nur der Stil, nicht aber der Inhalt gegenüber seinen als konservativ eingestuften Vorgängern verändert hat. Wie schätzen Sie ihn ein?

Ich glaube nicht, dass es große dogmatische Veränderungen geben wird. Aber auf jeden Fall muss man nach diesem ersten halben Jahr sagen, die Zeichen stehen auf Hoffnung. Seine Haltung zur Homosexualität ist ein gutes Beispiel: Er hat nie gesagt, Homosexualität ist in Ordnung. Aber auf eine konkrete Situation angesprochen, sagt er: „Wer bin ich, dass ich darüber richten könnte?“ Das finde ich großartig. Über aller Dogmatik steht einfach die Barmherzigkeit, und da habe ich gute Hoffnung.

Was erwarten Sie in Bezug auf die wiederverheirateten Geschiedenen?

Auch da glaube ich nicht, dass es irgendwann heißen wird: „Na ja, zwei oder drei Mal kann man schon kirchlich heiraten.“ Das wird sicher nie kommen. Aber ich bin guter Hoffnung, dass einfach das allgemeine Praxis wird, was in den Pfarren ohnehin praktiziert wird.

Wie gehen Sie selbst in Ihrer Pfarre damit um?

Ich würde nie auf die Idee kommen, wiederverheiratete Geschiedene von der Kommunion auszuschließen. Im Gegenteil: Leute, die ich immer wieder in der Kirche gesehen habe und von denen ich gewusst habe, dass sie in so einer Situation sind, habe ich bewusst dazu eingeladen.

Das Interview führte Michael Weiß, religion.ORF.at