Johannes XXIII.: Sanftmut und Menschenrechte

Das ist die Faszination, die von Johannes XXIII. noch immer ausgeht: wie sich seine konservative Frömmigkeit mit dem untrüglichen Gespür für die Herausforderungen einer neuen Zeit verbindet und mit dem Mut, notwendige Reformen in Angriff zu nehmen. Ein Kommentar von Hubert Gaisbauer.

Seine nachhaltigste Leistung bleibt die Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Auf die Frage, was darüber hinaus das Vermächtnis dieses Papstes sein könnte, sagte sein ehemaliger Sekretär, der fast 99-jährige Erzbischof und Kardinal Loris Francesco Capovilla: „Es ist der Respekt dem einzelnen Menschen gegenüber. Es ist sein Vertrauen. Es ist der Hinweis, dass die Methode Jesu neu entdeckt werden muss: zuerst tun, dann lehren!“

Die „Roncalli’schen Tugenden“

Das Leben von Johannes XXIII. kann heiligmäßig genannt werden, weil es nicht nur „eingetaucht war in den Heiligen Geist“, wie Papst Franziskus über ihn sagte, sondern auch in die Schwächen und Nöte seines Charakters, seiner Herkunftsfamilie und in seine Schwierigkeiten mit einer oft recht unverständigen und überheblichen Umgebung. Die vier „Roncalli’schen Tugenden“ - Geduld, Sanftmut, Friedfertigkeit und Gehorsam - waren ihm nicht in den Schoß gefallen, sondern mit Disziplin und Ausdauer erworben.

Johannes XXIII.

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Untrügliches Gespür für die Herausforderungen einer neuen Zeit: Johannes XXIII.

In der Mitte des Lebens hatte er bei der treuen Erfüllung seiner diplomatischen Dienstverpflichtungen – auf nahezu verlorenem Posten in Sofia und Istanbul, am äußersten Rand Europas – ausreichend Gelegenheit, sich die Tugend des geduldigen Ertragens anzueignen. Er litt unter der offensichtlichen Missachtung durch „Beamte“ der vatikanischen Kurie. In Istanbul wurde er dennoch zur entscheidenden Schaltstelle für den letzten Fluchtweg von Juden aus dem von den Nazis besetzten Europa.

Es wird bezeugt, dass Angelo Giuseppe Roncalli mindestens 24.000 Juden mit Kleidung, Geld und gefälschten Papieren zur Flucht verhalf. Als Nuntius in Frankreich war er dann mit einem völlig ungewohnten säkularen Verhältnis zwischen Staat und Kirche konfrontiert. Trotzdem konnte man über ihn sagen: „Er ist der einzige Mensch in Paris, in dessen Gegenwart man körperlich Frieden spürt.“

Ein Sprung ins Heute

Selbstbewusst erinnerte Johannes XXIII. noch in den letzten Tagen seines Lebens, wie er sich am Anfang des 20. Jahrhunderts als Bischofsekretär in Bergamo den neuen sozialen Aufgaben gegenübergesehen hatte und dann fast dreißig Jahre lang – in Bulgarien, der Türkei und in Frankreich – verschiedene Kulturen miteinander vergleichen konnte. Aus diesen Erfahrungen wuchs ihm die Erkenntnis, dass seine Kirche dringend ein „aggiornamento“ nötig habe, einen „Sprung ins Heute“.

Johannes XXIII. unterschreibt ein Dokument

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Konzilspapst Johannes XXIII.

Johannes wusste aber zu gut, dass seine Vision – ein Konzil! – mit dem starren Apparat der römischen Kurie alleine nicht zu bewerkstelligen sein werde. Also rief er die Bischöfe der Welt zusammen, man könnte fast sagen, er rief sie zu Hilfe. „Gaudet Mater Ecclesia“ – „Es freut sich die Mutter Kirche“, so eröffnete der bereits schwerkranke Papst am 11. Oktober 1962 mit kräftiger Stimme das Zweite Vatikanische Konzil. Ihm ist zu danken, dass nicht der Papst oder die Kurie das Konzil dominierten, sondern die Gemeinschaft der Bischöfe aus der ganzen Welt. Er sah die Bischöfe nicht als Befehlsempfänger der römischen Zentrale, sondern ermutigte sie sogar, gegen die Kurie aufzubegehren – wenigstens in der wichtigen Anfangsphase des Konzils.

Pflichtlektüre für Politiker

Neben der visionären Konzilseröffnungsrede ist sein letztes großes Rundschreiben „Pacem in terris“ („Friede auf Erden“) vom 11. April 1963 die wichtigste Botschaft seines Pontifikats: „Alle Menschen guten Willens“, Christen wie Nichtchristen, tragen Verantwortung für einen auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit gegründeten Frieden. Erstmals wird seitens der katholischen Kirche von höchster Stelle die Bedeutung der Menschenrechte – analog zu der säkularen Konvention der Vereinten Nationen – anerkannt und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen proklamiert.

Johannes XXIII. drängte darauf, dass diese Enzyklika noch zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wird. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wollte er doch, dass sein Friedenskonzept einfließen möge in die Erörterungen und Ergebnisse „seines“ Konzils. Und so ist es auch geschehen. Wenn man also heute immer wieder vom „Konzilspapst“ spricht, darf diese Enzyklika nicht vergessen werden.

Buchautor und Experte

Hubert Gaisbauer ist Buchautor und ehemaliger Leiter der Abteilung Religion im ORF-Hörfunk.

Zwei überaus wichtige Konzilsdokumente, „Über Religionsfreiheit“ und „Die Kirche in der Welt von heute“, können als konsequente Fortschreibung von „Pacem in terris“ angesehen werden. Da wird zum Beispiel – man bedenke: vor 50 Jahren! – die Anerkennung von Würde und persönlichen Rechten von Flüchtlingen gefordert und auf die „Pflicht der Staatenlenker“ hingewiesen, „ankommende Fremde aufzunehmen“ und „dem Vorhaben derer entgegenzukommen, die sich einer neuen Gemeinschaft anschließen wollen“.

Gott achtet die Freiheit des Menschen

„Direkt dem Herzen von Papst Johannes“ (Prälat Johannes Oesterreicher) entstammt damit eine völlig neue Zuwendung der katholischen Kirche zu jenen Menschen und Gruppen, die in der Kirche vor nicht allzu langer Zeit noch Häretiker, Abgefallene, Atheisten oder „perfide Juden“ genannt worden waren. Jetzt – nach dem Konzil – ist von „getrennten Geschwistern“ die Rede, von „suchenden Menschen guten Willens“ und von den „älteren Brüdern im Glauben“. Und so trug es Johannes XXIII. noch auf dem Sterbebett seiner Kirche auf, „die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen“. Und an anderer Stelle: „Ich muss vor allem die Freiheit anderer Menschen achten. Gott tut es auch.“

Ein Heiliger?

Der bedeutende Kirchenhistoriker Giuseppe Alberigo (gest. 2007) würde auf die Frage, warum denn dieser Papst Johannes nun wirklich zu den kanonisierten Heiligen gezählt werden soll, wahrscheinlich mit einem Zitat aus seiner Roncalli-Biografie antworten: „Weil der einfache Bauernbub aus Sotto il Monte dem Papst-Amt wieder ein Gesicht gegeben hat, wie es dem Evangelium entspricht.“ Dieses Evangelium den Menschen nahezubringen, sah Roncalli sein Leben lang als seinen Auftrag: „Wenn ich mich darin nicht widerspiegle, dient mein Leben zu nichts.“