Boko Haram: „Taliban Nigerias“ vs. „westliche Bildung“

Die islamistische Gruppe Boko Haram bezeichnet sich selbst als „nigerianische Taliban“. Tatsächlich ist die Terrorgruppe ähnlich wie ihr afghanisches „Vorbild“ für zahlreiche blutige Anschläge in Nigeria verantwortlich.

Auch die Forderung ist dieselbe: eine Form der Scharia, eine islamische Rechtsordnung, im ganzen Land einzuführen. In zwölf der insgesamt 36 Bundesstaaten des westafrikanischen Staates herrscht bereits eine Form der Scharia - wenig verwunderlich vor allem im muslimisch geprägten Norden (im Gegensatz zum christlichen Süden). Die Rechtsprechung sieht zum Teil drakonische Strafen, etwa die Steinigung für Ehebrecher, vor. In neun Bundesstaaten ist die Scharia seit Ende der 1990er Jahre gänzlich in Kraft, in drei nur in Gebieten, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt sind.

Um ihre Forderungen zu realisieren, greifen die Mitglieder von Boko Haram zu drastischen Maßnahmen. Bei Anschlägen im ganzen Land starben seit Beginn des Jahres mehr als 1.500 Menschen. Seit mehr als drei Wochen sind nun auch Hunderte Schülerinnen in der Gewalt der Gruppe. Ihr Anführer Abubakar Shekau drohte kürzlich damit, die verschleppten Mädchen zu versklaven.

Scharia: Komplexes Rechtssystem

Scharia (wörtlich: Weg zur Wasserquelle) bezeichnet das islamische Rechtssystem. Sie basiert in erster Linie auf dem Koran und der Sunna (Brauch, überlieferte Norm). Die Scharia ist keine Gesetzessammlung, sondern ein Rahmen für die Rechtsschöpfung durch Rechtsgelehrte. Sie ist ein komplexes Rechtssystem, das sich laufend weiterentwickelt. Im Rahmen dieses Systems vorgesehen ist für eine Reihe von Gesetzesverstößen, darunter Ehebruch, die Steinigung.

Shekau: Totgesagter Terrorchef

Abubakar Shekau ist der meistgesuchte Verbrecher Nigerias. Er soll der Drahtzieher hinter fast allen blutigen Attacken der Islamistengruppe sein. Die USA stuften ihn 2012 als Terroristen ein und setzten sieben Millionen Dollar (5,05 Mio. Euro) Belohnung für seine Ergreifung aus. Mehrmals wurde er totgesagt - doch immer wieder meldete er sich zurück.

Shekau war zunächst der Stellvertreter von Boko-Haram-Gründer Mohammed Yusuf, der 2009 getötet wurde. Im gleichen Jahr gaben die Behörden in Abuja bekannt, dass auch Shekau bei heftigen Kämpfen mit Sicherheitskräften ums Leben gekommen sei. Sie sollten sich irren: Im Juli 2010 zeigte sich der im Bundesstaat Yobe in Nordnigeria geborene Extremist in einem Video und verkündete, er habe die Leitung von Boko Haram übernommen.

Verwüstung nach Anschlag von Boko Haram in Nigeria

Reuters/Stringer

Verwüstung nach Anschlag von Boko Haram in Nigeria

Seither gab es immer wieder Gerüchte, dass Shekau bei Gefechten ums Leben gekommen sei, so zuletzt 2013. Die Spekulationen widerlegte er nach schweren Anschlägen regelmäßig in provokanten Bekennervideos, zuletzt nach der Entführung von über 200 Schülerinnen im Bundesstaat Borno. Über Shekaus Privatleben ist wenig bekannt. Selbst sein Alter ist unklar: Während manche sagen, er sei 35 oder 36 Jahre alt, glauben andere, er sei bereits 45. Der ehemalige Theologiestudent gilt als höchst gebildeter Einzelgänger, der fast nie direkt mit seinen „Fußtruppen“ kommuniziert.

Strukturen weitgehend unbekannt

Gegründet wurde Boko Haram vor etwa zwölf Jahren. Anschläge gibt es allerdings erst seit Anfang 2010. Nach Ansicht der Afrikaexpertin Ingeborg Grau könnte die Verhaftung Yusufs bei einer Polizeirazzia 2009 im Hauptquartier der Gruppe in Maiduguri zur Radikalisierung beigetragen haben. Yusuf, der ironischerweise hohe Bildung (Studium der Theologie in Saudi-Arabien) genossen hat, in seinem Land aber gegen „westliche Bildung“ kämpfte, verstarb 39-jährig aus ungeklärter Ursache in Polizeigewahrsam. Über Organisationsstrukturen oder Mitgliederzahlen von Boko Haram liegen keine gesicherten Informationen vor.

Ganz klar formuliert die Gruppierung, gegen wen sich ihre „Aktivitäten“ richten: Übersetzt heißt „Boko“ (Hausa) wörtlich „Buch“ und steht für Wissen und Bildung im westlichen Sinn, und „Haram“ (Arabisch) für alles für den Islam Verbotene.

Bin Laden als Held verehrt

Zentrum des Widerstandes durch Boko Haram ist der Norden Nigerias und hier vor allem Maiduguri, die Hauptstadt des Bundesstaates Borno. Der getötete Al-Kaida-Chef Osama bin Laden wird dort noch immer als Held verehrt. Aber nicht nur zu Al-Kaida selbst, auch zu deren Ablegern in den nordafrikanischen Maghreb-Staaten (AQMI) unterhalten zumindest verschiedene Arme von Boko Haram gute Kontakte.

Dass Boko Haram nicht nur wegen ihrer konfessionellen Ausrichtung vor allem im Norden des 177-Millionen-Einwohner-Landes so populär ist, erklärt Grau mit ökonomischen und sozialen Problemen. In der Region herrsche eine besonders hohe Arbeitslosigkeit. Zudem gebe es ein großes Bildungsproblem. „Die Kinder werden dort nicht in die Schule geschickt, obwohl es welche gäbe“, so Grau im Gespräch mit der APA. Der Oberste Rat für Islamische Angelegenheiten in Nigeria (Nigerian Supreme Council for Islamic Affairs, NSCIA) bezeichnete die Aktivitäten Boko Harams als „offensichtlich gegen den Islam“ gerichtet und als „Kriegserklärung für jeden Nigerianer“.

religion.ORF.at/APA/dpa

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