ISIS: Die Islamisten und das Kalifat

Der Irak-Konflikt ist zu einer Bedrohung für die ganze Region geworden. Die Nachbarländer sind um ihre Grenzen besorgt. Eine Ursache des Konflikts liegt in der unterschiedlichen Religionsauffassung von Sunniten und Schiiten.

Die Ursprünge des Konflikts liegen Jahrhunderte zurück: Eine Auseinandersetzung um die Nachfolge des Propheten Mohammed im siebenten Jahrhundert spaltete die Muslime in Schiiten und Sunniten. In den vergangenen Monaten eskalierte der Streit zwischen der von Schiiten dominierten Regierung und sunnitischen Parteien. Sunnitische Terrorgruppen wie ISIS kämpfen gegen Schiiten, die sie als „Abweichler“ von der wahren Lehre des Islams ansehen.

ISIS-Kämpfer stehen Wache in der nordirakischen Stadt Mossul

Reuters/Stringer Iraq

ISIS-Kämpfer in der nordirakischen Stadt Mossul

Schiiten: Legitimistisches Prinzip

Der Unterschied zu den Sunniten besteht bei Schiiten darin, dass sie allein Ali ibn Abi Talib, den Schwiegersohn Mohammeds, und seine Nachkommen aus der Ehe mit der Prophetentochter Fatima als allein berechtigte Imame (Leiter) der Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen (Umma) anerkennen. Die Sunniten hingegen wünschen sich als Nachfolger des Religionsstifters einen fähigen Heerführer aus Mohammeds Stamm, der durch einen Rat (Schura) bestätigt wird. Eine Erbfolge verlangen sie nicht. Der Begriff Sunniten leitet sich von der Sunna ab, den Überlieferungen des Propheten. Die Sunniten lehnen die Heiligenverehrung und den Märtyrerkult der Schiiten strikt ab.

Stichwort: Kalifat

Mit der Ausrufung des Kalifats will die dschihadistische Terrororganisation ISIS an die im Ersten Weltkrieg untergangene Tradition eines islamischen Weltreiches anknüpfen. Kalif (arabisch: Chalifa) bedeutet Nachfolger (des Propheten Mohammed). Der Träger des Titels ist Herrscher sowohl über alle Muslime als auch über das Territorium, in dem mehrheitlich Muslime leben.

Als politische Partei („Shi’at Ali"/Partei Alis, davon leitet sich das Wort Schia ab) bestritten sie aufgrund ihres legitimistischen Prinzips die Rechtmäßigkeit der sunnitischen Kalifen, zunächst der drei ersten "rechtgläubigen“ Kalifen (Abu Bakr 632 bis 634, Omar ibn al-Khattab 634 bis 644, Othman ibn Affan 644 bis 656), dann seit dem Kalifat Alis (656 bis 661) die der Umaijaden. Mit dem Tod dieses vierten der „rechtgeleiteten“ Kalifen begann die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten.

Keine Märtyrer bei Sunniten

Hussein, der Sohn Alis, hielt den Herrschaftsanspruch, auf den sein älterer Bruder Hassan gegen eine hohe Abfindungssumme zugunsten des ersten Umaijaden-Kalifen Muawija verzichtet hatte, aufrecht. Er fiel 680 bei Kerbela am Euphrat als Märtyrer der Partei Alis im Kampf gegen die Umaijaden, die sich in Damaskus niedergelassen hatten, nachdem die Mehrheit der Partei Alis Hussein im Stich gelassen hatte. Für die Schiiten ist Hassan der zweite Imam, Hussein der dritte. Husseins Todestag, der 10. Muharram, wird in schiitischen Gegenden als religiöser Gedenk- und Trauertag begangen - auch das ein Unterschied zu den Sunniten, die keine Märtyrer kennen.

Aufspaltung in Gruppen

Die Schiiten spalteten sich rasch weiter in Einzelgruppen auf, wurden aber nach dem Tod Husseins vor allem durch religiöse Vorstellungen zusammengehalten. Ihr Versuch, sich im Islam durchzusetzen, scheiterte durch den Sieg der Abbasiden (Nachkommen eines Onkels von Mohammed), die ein bis 1258 dauerndes, von den Mongolen zerschlagenes Kalifat in Bagdad begründeten.

Allerdings war der jeweilige Kalif schon seit etwa dem zehnten Jahrhundert nicht viel mehr als eine Marionette der religiösen (Rechtsgelehrte) wie weltlichen Mächte (Emire und Sultane). Angebliche Nachkommen der Dynastie fungierten unter den Mamluken-Sultanen von Kairo als „Schattenkalifen“ (1261 bis 1517) ohne wirkliche Macht. Seit dem 18. Jahrhundert führten die Osmanen-Sultane den Titel des Kalifen, am 3. März 1924 wurde er von der türkischen Nationalversammlung abgeschafft.

Neben den schiitische Hauptgruppen, den Imamiten („Zwölferschiiten“ nach der Zahl der von ihnen anerkannten Imame), Ismailiten („Siebenerschiiten“), von denen sich die Drusen ableiten, und Zaiditen (dogmatisch duldsame schiitische Richtung, benannt nach Zaid, einem Enkel Husseins) traten noch Karmaten und Assassinen und die unter der Bezeichnung Ghulat (Extremisten) zusammengefassten Gruppen hervor, die die Schiiten zeitweise sehr in Misskredit brachten. Die Schiiten bilden heute im Iran, Irak, in Bahrain und Aserbaidschan die Mehrheit. Im Libanon, in Pakistan, Afghanistan, Indien und dem Jemen stellen sie bedeutende Minderheiten.

Eine Gruppierung, die ebenfalls die Imame Ali und Hussein - im Gegensatz zu den übrigen Muslimen auch in Bildern - verehrt, sind die liberalen Aleviten, die in der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Auch die syrischen Alawiten, denen auch der Machthaber Baschar al-Assad angehört, entstammen der schiitischen Strömung. Strenggläubige sunnitische Muslime sprechen ihnen jedoch die „Rechtgläubigkeit“ ab. Recht und Kultus der Schiiten zeigen gegenüber den Sunniten eine Reihe von Besonderheiten, vom Staatsrecht aber abgesehen keine grundlegenden Unterschiede.

Schiiten beten am Imam-Hussein-Schrein in der heiligen Stadt Kerbala

Reuters/Stringer Iraq

Schiiten beten am Imam-Hussein-Schrein in der heiligen Stadt Kerbela

Im Laufe der Geschichte gab es verschiedene schiitische Dynastien, so die Zaiditen im Jemen, die Idrisiden und Fatimiden in Nordafrika, die Bujiden und Safawiden im Iran. Letztere hatten die Schia zur persischen Staatsreligion gemacht, die sie, von iranischen Vorstellungen beeinflusst, bis heute geblieben ist.

Ähnliche Konflikte in der Region

In Syrien herrscht ein ähnlicher Konflikt wie im Irak: Dort stellen Sunniten zwei Drittel der Bevölkerung. An ihrer Seite kämpft ISIS gegen die Truppen des Machthabers Assad. Auch im benachbarten Libanon sorgte in den vergangenen Jahren ein Machtkampf für zunehmende Instabilität. Auf der einen Seite stehen prosyrische Parteien wie die Schiiten-Miliz Hisbollah, die in Beirut in der Regierung sitzt und mit dem Assad-Regime verbündet ist. Ihnen gegenüber stehen westlich orientierte Bewegungen der Sunniten und maronitische Christen, die mehrheitlich die syrische Opposition unterstützen.

Hauptwallfahrtsorte der Schiiten im Irak sind Kerbela mit den Grabmoscheen der Brüder Hassan und Hussein, Nadschaf mit dem Grab Alis, al-Chadimain bei Bagdad mit dem Grab des Imams Kassem und seines Onkels Dschawad sowie Samarra, wo der zehnte und elfte Imam der Zwölferschiiten begraben sind. Im Iran sind Kom (Ghom) südlich von Teheran mit dem Grabmal von Mohammeds Tochter Fatima und Meschhed, wo der achte Imam Resa beigesetzt ist, Hauptwallfahrtsorte. Ein Besuch all dieser Wallfahrtsorte ist für die Schiiten verdienstvoller als der Hadsch (Pilgerreise) nach Mekka und Medina.

religion.ORF.at/APA

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