Wo Latein noch lebt

Latein gilt als tot - und doch lebt die Sprache Ciceros weiter, unter anderem durch die katholische Kirche. Denn im Vatikan ist Latein nach wie vor eine von zwei Amtssprachen. Und nach wie vor werden Wortneuschöpfungen erarbeitet.

Wenn Daniel Gallagher auf dem Petersplatz in Rom Touristen beobachtet, die sich selbst fotografieren, dann überlegt er sich Dinge, die wohl nicht vielen einfallen würden. „In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, wie man ‚Selfie‘ auf Latein sagen würde“, erzählt Gallagher im Interview mit religion.ORF.at. Eine seiner Ideen lautet „photographice se a se exprimere“, eine weitere „efficere imaginem sui digitalem“.

Umrisse des Obelisks auf dem Petersplatz und des Petersdoms vor bewölktem Abendhimmel

Reuters/Eric Gaillard

Latein ist im Vatikan immer noch eine von zwei Amtssprachen

„Nullus decedit dies nisi Latine confabulemur“, so Gallagher: „Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht Latein miteinander sprechen.“ Der US-amerikanische Priester arbeitet im vatikanischen Staatssekretariat, der „Regierungszentrale“ des Vatikan. Er und seine fünf Kollegen sind dort für sämtliche lateinische Publikationen zuständig - und davon gibt es eine Menge. Gallagher schreibt Briefe, um Bischöfen und Kardinälen zu diversen Anlässen zu gratulieren, er verfasst die lateinischen Versionen von offiziellen Dekreten und arbeitet auch an Übersetzungen von wichtigen päpstlichen Dokumenten wie Enzykliken mit.

Mehr als Übersetzen

Insgesamt gibt es in der verschiedenen vatikanischen Behörden etwa 20 bis 30 Menschen, die für lateinische Publikationen verantwortlich sind. Gallaghers Büro im Staatssekretariat ist allerdings das größte. Hier entstehen die wichtigsten Veröffentlichungen des Vatikans, die in alle Welt gehen. Seine Aufgabe ist aber mehr als Übersetzen. Die meisten alltäglichen Dokumente - etwa Grußkarten - entstünden schon im Original auf Latein, erzählt er. Viele gebe es gar nicht in anderen Sprachen.

Daniel Gallagher

Daniel Gallagher/privat

Daniel Gallagher

Eine der größten Herausforderungen dabei ist, dass es für viele moderne Begriffe keine Entsprechung im klassischen Latein gibt. Wer aktuelle Sachverhalte auf Lateinisch beschreiben will, muss sich überlegen, wie zum Beispiel Cicero bestimmte alltägliche Hilfsmittel der modernen Welt benannt hätte. „Sie können auf Ihrem iPod mit ‚conchae auditoriae‘ (Headset) Musik hören, auf einem ‚plectrologium‘ (Keyboard) tippen und Nachrichten per ‚cursus electronicus‘ (E-Mail) schicken“, so Gallagher.

Um sich nicht jedes Mal neue Umschreibungen für moderne Begriffe überlegen zu müssen, hat der Vatikan ein Lexikon des modernen Lateins herausgegeben, das „Lexicon recentis Latinitatis“. Dieses wurde von der Stiftung „Opus Fundatum Latinitas“ unter der Leitung des Theologen Karl Egger zusammengestellt. Die erste italienisch-lateinische Ausgabe erschien in zwei Bänden 1992 und 1997, eine bearbeitete und erweiterte Version 2003. 1998 wurde auch eine deutsch-lateinische Ausgabe veröffentlicht.

Das tote Wörterbuch

Heute wird nicht mehr an dem Lexikon gearbeitet. Die zuständige Stiftung wurde 2012 aufgelöst. Als Nachfolgeorganisation rief der damalige Papst Benedikt XVI. die Päpstliche Akademie für die lateinische Sprache ins Leben. „Die Akademie hat die Aufgabe anvertraut bekommen, das Interesse für Latein innerhalb und außerhalb der Kirche zu verstärken“, so der Generalsekretär der Institution, Roberto Spataro, gegenüber religion.ORF.at. „Der Heilige Stuhl hält Latein für einen unermesslichen Schatz für den Glauben und die Kultur.“

Konkret äußere sich das etwa in einem regelmäßig erscheinenden Review namens „Latinitas“ sowie in der Organisation von Kongressen und Seminaren. Die Aktualisierung des Lexikons gehöre nicht zu den Aufgaben. Im päpstlichen Dekret zur Gründung der Akademie sei davon einfach keine Rede, sagte Spataro lediglich. „Dementsprechend haben wir andere Prioritäten.“

Lateinische Twitter-Seite des Papstes

Vatikan

„Pagina publica Papae Francisci breviloquentis“ - der lateinische Twitter-Account des Papstes

Für die Rolle des Vatikans bzw. der Kirche in der kleinen internationalen Community der Lateinsprechenden bedeutete das Ende der Arbeit am Lexikon nichts Gutes. Die Akademie habe „seit ihrer Geburtsanzeige kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben“, sagt Kurt Smolak, emeritierter Professor für Klassische Philologie an der Universität Wien und derzeit Präsident der internationalen Latinistenvereinigung „Academia Latinitati Fovendae“ (ALF). Die Rolle des Vatikans ist für ihn „derzeit marginal“, auch wenn das Lexikon aus praktischen Gründen nach wie vor Autorität genieße. Die Auflösung des „Opus Fundatum Latinitas“ habe sich „in lexikographischer Hinsicht dezentralisierend“ ausgewirkt, so Smolak.

Auf der Suche nach Umschreibungen

Dennoch: Angesichts der Menge der Publikationen auf Latein werden wohl nach wie vor im Vatikan öfter Wortneuschöpfungen in lateinischer Sprache erarbeitet als irgendwo sonst auf dem Planeten. „Die meisten Begriffe, die wir brauchen, finden wir in der klassischen und in der christlichen Literatur“, so Gallagher. „Den Rest können wir ‚erfinden‘, aber wir müssen dabei vernünftig und vorsichtig sein. Wir müssen reines Latein verwenden und nicht einfach Begriffe oder Phrasen aus einer heutigen Landessprache mechanisch in gestelztes Latein überführen.“

Akademiepräsident Spataro sieht das ähnlich. Man müsse jene Methoden anwenden, die schon Cicero vorgeschlagen habe, nämlich die der Umschreibung. Gleichzeitig aber müsse man versuchen, mit so wenig Worten wie möglich auszukommen. „Latein ist eine Sprache, die die Kürze mag.“ Besonders schwierig sei das bei abstrakten Begriffen wie zum Beispiel „Solidarität“. „Manche verwenden die ‚Latinisierung‘ des modernen Begriffs, die etymologisch auf ‚solidum‘ zurückgeht, und sagen: ‚Solidaritas‘. Das hört sich aber barbarisch an“, meint Spataro. Er bevorzuge „mutuae necessitudines (wörtl. etwa ‚gegenseitige Beziehungen‘)“.

„Cicero würde das verstehen“

Auch Gallagher führt im Interview mit religion.ORF.at ein Beispiel für ein besonders herausforderndes Übersetzungsproblem an: die Suche nach einem geeigneten Titel für den lateinischen Account des Papstes beim Kurznachrichtendienst Twitter. „Wir haben verschiedene Verben in Betracht gezogen, die das Geräusch eines zwitschernden Vogels ausdrücken könnten: pipare, pililare, pipire, pipiare etc. Aber wir waren überzeugt, dass ‚pagina Pontificus pipilantis‘ nicht des Bischofs von Rom würdig klingt“, erzählt der US-Amerikaner.

Die Lösung kam dann tatsächlich von Cicero höchstpersönlich. Dieser habe einmal in einem Brief genau das zusammengefasst, was Twitter ausmache, so Gallagher. In einem Brief an Atticus habe Cicero geschrieben: „breviloquentem iam me Tempus ipsum facit“ (wörtl. etwa: „Die Zeit selbst macht, dass ich mich kurz fasse“). „Wir haben uns also für ‚pagina publica Papae Francisci breviloquentis‘ (wörtl. etwa ‚Öffentliche Seite des sich kurz fassenden Papstes Franziskus‘, Anm.) entschieden. Cicero würde das mehr oder weniger verstehen.“

„Latein übersteigt die Geschichte“

Generell, meint Gallagher, könne man jedoch nicht pauschal sagen, ob direkte Übersetzungen oder Umschreibungen besser seien - auch weil Latein sich wie jede andere Sprache ständig weiterentwicklt. „Ein ‚Apparatus telephonicus‘ wird schlussendlich ein ‚telephonium‘, das dann wiederum zu einem ‚telephonum‘ wird. Wer weiß - wir sagen ja auf Englisch mittlerweile auch ‚phone‘ statt ‚telephone‘ - vielleicht sagen wir auf Latein auch einmal ‚phonum‘? Ich hoffe nicht, aber es lässt sich nicht ausschließen.“

Lateinische Inschrift auf Steintafel

Reuters/Max Rossi

Lateinische Inschrift an einer Basilika in Rom

Auch wenn es sich per Definition um eine tote Sprache handelt, weil es keine Muttersprachler mehr gibt, ist Gallagher von der Aktualität und Wichtigkeit des Lateins auch in der Gegenwart überzeugt. „Einer der Gründe, warum Latein neue Begriffe aufnehmen kann und soll, ist, dass Ciceros Sprache nicht auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort beschränkt ist. Sie kommuniziert mit allen und zu jeder Zeit. Sie übersteigt die Geschichte.“

Micele Albus, religion.ORF.at

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