Nahost-Bischöfe: Größte humanitäre Krise seit Weltkrieg

Ein dramatisches Bild der Lage haben die Nahost-Bischöfe auf einer Tagung im Vatikan gezeichnet. Die Welt sei „mit der größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ konfrontiert.

Das erklärte der Präsident von Caritas Internationalis, Kardinal Oscar Andres Rodriguez Maradiaga. Im Irak und in Syrien praktiziere die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) „ethnische Säuberung“ in großem Stil. Die mehrtägige Koordinierungssitzung der Caritas war eine Krisensitzung. Die Hilfsanfragen übersteigen die Möglichkeiten.

Laut Kardinal Rodriguez müssen jede Minute vier syrische Kinder ihre Wohnhäuser für immer verlassen. Im Irak seien 1,3 Millionen Menschen geflüchtet. Auch die Caritas-Zentrale musste aufgegeben werden. Aus Syrien seien drei Millionen Menschen in den Libanon, nach Jordanien oder in die Türkei geflohen. Die Aufnahmeländer in der Nachbarschaft dürften mit dem Flüchtlingsproblem nicht allein gelassen werden. Caritas-Koordinator John Coughlin nannte neben dem Irak und Syrien auch Gaza als Schwerpunkt der humanitären Hilfen.

Maradiaga: Weitere Gewalt nie Antwort

Der honduranische Kardinal appellierte nach einem Bericht der Ökumenischen Stiftung Pro Oriente an alle Regierungen, den Zustrom von Waffen und Kämpfern zu unterbinden. Zugleich äußerte er sich besorgt über die Militärallianz westlicher und arabischer Länder, die im Irak und in Syrien unter US-Führung gegen die IS intervenieren wollen: „Weitere Gewalt ist nie die Antwort. Sie wird nur zu einem ‚unnützen Blutbad‘ führen“, zitierte der Kardinal Papst Benedikt XV., der mit diesen Worten 1917 den Ersten Weltkrieg umschrieben hatte.

„Wo bleibt die UNO?“

„Luftangriffe lösen die Probleme nicht“, betonte auch der chaldäisch-katholische Bischof und irakische Caritas-Präsident Shlemon Warduni in Rom gegenüber der katholischen Nachrichtenagentur SIR. Vielmehr müssten die Waffenlieferungen an IS unterbunden werden, „der keinem moralischen oder religiösen Gebot gehorcht“. Die Bischöfe fürchten, dass die Luftangriffe das Risiko einer dramatischen Verschlechterung der Situation der Bewohner mit sich bringen. Warduni klagte an: „Wo bleibt die UNO? Die internationale Gemeinschaft muss eingreifen, aber mit den entsprechenden Mitteln.“

Zur Lage in Syrien sagte der chaldäisch-katholische Bischof von Aleppo, Antoine Audo, zu Radio Vatikan, nicht nur die täglichen Gefechte und die Millionen von Flüchtlingen stellten eine enorme Belastung dar, sondern auch der Zusammenbruch der Infrastruktur und die hohe Arbeitslosenzahl. Das ganze Land sei verarmt. Audo, der auch Präsident der syrischen Caritas ist: „In großen Städten wie Aleppo sind 80 Prozent der Menschen ohne Arbeit. Reiche und gut ausgebildete Bürger nützen die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. Zurückgeblieben ist der Mittelstand, der jedoch zunehmend verarmt. Die Lage der schon ursprünglich Armen ist nur noch miserabel.“

Sorge um Damaskus, Aleppo und Homs

Besonders besorgt äußerte sich Audo über die Sicherheitslage in den Städten Damaskus, Aleppo und Homs. In seiner Heimatstadt Aleppo kursierten Gerüchte, dass die islamistische IS-Terrormiliz bald die christlichen Wohnbezirke angreifen werde. Viele Christen hätten Angst und dächten an Flucht.

Seit April 2013 gibt es keine Spur mehr zu den entführten Aleppiner Bischöfen Mar Gregorios Johanna Ibrahim (syrisch-orthodox) und Bulos (Paulis) Jasidschi (griechisch-orthodox), die im türkisch-syrischen Grenzgebiet verschleppt worden waren. Zum Fall des im Juli 2013 in Raqqa von Islamisten entführten italienischen Jesuitenpaters Paolo Dall’Oglio sagte kürzlich ein Aktivist der syrischen Opposition, dieser sei am Leben. Der Pater sei zeitweise zusammen mit dem US-Journalisten James Foley festgehalten worden, den die Islamisten inzwischen ermordet haben.

Enthauptungen „teuflisch“

Kardinal Fernando Filoni, Präfekt der vatikanischen Missionskongregation und früherer Nuntius in Bagdad, kommentierte die Enthauptungen westlicher Geiseln durch IS-Terroristen als „teuflisch“. „Niemand darf im Namen Gottes so etwas tun“, sagte Filoni gegenüber CNN. Der Kurienkardinal hatte als Sondergesandter von Papst Franziskus Flüchtlinge im Nordirak besucht. Kurdische Politiker gaben ihm gegenüber an, sie bräuchten gute Ausrüstung, nicht ausländische Soldaten, um sich selbst zu verteidigen.

Mittlerweile festigt IS im Irak sein totalitäres System, wobei vieles nach Ansicht von Beobachtern darauf hindeutet, dass „Konvertiten“ aus dem europäischen Raum am Werk sind. Nach Angaben der Internet-Agentur ankawa.com ordnete IS an, dass in ihrem Einflussbereich in Mossul und in der Ninive-Ebene jeder Hinweis auf das Christentum in der schulischen Erziehung zu unterbleiben habe. Der erst seit kurzem in etlichen Schulen in Bagdad, Ninive und Kirkuk eingeführte Unterricht in aramäischer Sprache - der Sprache der Christen im mesopotamischen Raum - wurde untersagt.

IS: Große Finanzquellen und moderne Waffen

Der chaldäisch-katholische Patriarch Mar Louis Raphael I. Sako forderte kürzlich vor der UNO in Genf die Befreiung der Ninive-Ebene und der Stadt Mossul „im Rahmen einer umfassenden politischen Lösung“. Die Ideologie der Terrormiliz IS führe „zum Genozid“. Diese Extremisten stellten inzwischen für die Weltgemeinschaft eine schwere Bedrohung dar. Der IS verfüge über große Finanzquellen und moderne Waffen und sei in den sozialen Medien präsent. Gruppenvergewaltigungen, Raubüberfälle, Folterung und Mordorgien gegen Menschen, die von IS-Ideologen als „Ungläubige“ abqualifiziert werden, seien tägliche Praxis.

Das EU-Parlament hat den chaldäisch-katholischen Patriarchen, wie Pro Oriente berichtet, für den diesjährigen Sacharow-Preis nominiert. Der mit 50.000 Euro dotierte „Preis für die Verteidigung der Menschenrechte“ wird alljährlich um den 10. Dezember verliehen. An diesem Tag war 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet worden.

religion.ORF.at/KAP

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