Psychotherapie als Religionsersatz?

Irvin Yalom ist ein einflussreicher Psychotherapeut und Autor. Das Jüdische Filmfestival in Wien zeigt eine Doku über ihn als Premiere. Gibt es Antworten auf letzte Fragen? Psychotherapie versus Religion.

Zwei Minuten lang pflügt ein riesengroßer Ozeantanker über die Leinwand. Ein gewaltiges und symbolträchtiges Bild, mit dem Regisseurin Sabine Gisiger ihre Dokumentation über den Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beginnt.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

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Die Botschaft ist klar: Es geht hier um einen Großen seines Faches und seinen bedeutsamen Lebensweg. Yalom hat über Jahrzehnte weltweit die Szene der existentiellen Psychotherapie geprägt. Mit seinen Lehrbüchern hat er unter Kollegen hohes Ansehen erlangt, mit seinen Romanen, wie etwa „Und Nietzsche weinte“ oder „Die Rote Couch“, Millionen Leserinnen und Leser weltweit begeistert.

Der englische Titel des Filmes ist „Yalom’s Cure“ und kann mit „Yaloms Heilung“ ins Deutsche übersetzt werden. Es geht um die Heilung der Wunden, die das menschliche Dasein aufreißt, bis hin zur Existenzbedrohung durch den Tod. Zur Sprache kommen Ängste, denen sich Patienten, aber auch Psychotherapeuten immer wieder stellen müssen und um deren „Heilung“ gerungen wird. In einem großen Bogen, von der Jugend bis ins hohe Alter, begleitet die Dokumentation Yalom und lässt ihn ausgiebig zu Wort kommen. Das Produktionsteam hat private Filmausschnitte und Fotos aufgetrieben, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen.

Irvin Yalom und seine Frau Marylin

Alamode Filmverleih

Irvin Yalom und seine Frau Marilyn. Das Paar ist seit 60 Jahren verheiratet

In Österreich kommt der Film unter dem Titel „Yaloms Anleitung zum Glücklichsein“ in die Kinos. Die Premiere ist am Jüdischen Filmfestival in Wien am 10. Oktober. Welche Kur gegen Angst und Verzweiflung hat der bekannte Therapeut gefunden, um mit der größten existentiellen Bedrohung, dem Tod, fertig zu werden? Wie sieht seine Anleitung zum Glücklichsein aus?

Ausbruch aus dem jüdischen “Ghetto”

Yalom wuchs in Washington DC als Sohn einer jüdisch-russischen Emigrantenfamilie auf. Seine Eltern haben ein Lebensmittelgeschäft betrieben. Das Verhältnis zu seiner Mutter sei nicht einfach gewesen, erzählt der heute 83-Jährige. Die Eltern waren stark in der jüdischen Einwandererszene verwurzelt. Er selber hätte aber als Jugendlicher kein Interesse gehabt, zur jüdischen Clique aus Osteuropa und Russland zu gehören. Yalom zog die Bibliothek dem geselligen Beisammensein im „Ghetto“ vor.

Er habe große Pläne gehabt, wollte immer schon Mediziner werden. Doch in den 1950er Jahren gibt es an nordamerikanischen Universitäten für Juden eine Sperrklausel von fünf Prozent. Er habe Tag und Nacht studiert, um als Jude dennoch auf der medizinischen Fakultät zugelassen zu werden. Mit Erfolg. Und schon bald sollte Yalom selbst als Lehrender an Universitäten unterrichten.

Immer mehr interessierte sich Yalom für das Wesentliche und begann mit krebskranken Menschen psychotherapeutisch zu arbeiten. Vor allem in den 1980er Jahren war es sein Ziel, die Sensibilität von Therapeuten für die existentielle Dinge zu erhöhen. Darunter versteht Yalom die Beschäftigung mit dem Tod, die Suche nach Sinn, Isolation und Freiheit. Man ahnt ein bisschen die Not der Filmemacherin, all diese abstrakten Begriffe in Bilder umzusetzen. So werden Strand, Wellen, Wiesen und noch mehr Aufnahmen von Strand, Wellen und Wiesen etwas unoriginell über bedeutsame Interviewpassagen gelegt.

Religiöser Atheist?

Als Soundtrack wird jüdische Musik geboten, leise und im Hintergrund. Das, was was bei Yalom so gar keine Rolle mehr zu spielen scheint, seine jüdischen Wurzeln, ist zumindest als Musikzitat stets vorhanden. Yalom sucht in Interviews den Abstand zu Glaube und Religion. Er bezeichnet sich selbst als „praktizierenden Atheisten“. In einem Gespräch mit der jüdischen Tageszeitung Yediot Achronot formuliert er: „Wenn man an Gott glauben würde, was hätte das für Konsequenzen für die anderen irrationalen Dinge. Da lebe ich lieber in einer rationalen Welt.“

Umso mehr war Irvin Yalom im Jahr 2000 erstaunt, als er von der „American Psychiatric Association“ den Oscar Pfister Preis für wichtige Beiträge zu Psychiatrie und Religion erhielt. „Religion und ich, das muss ein Irrtum sein“, war Yalom damals überzeugt. Doch viele seiner Lesen meinen bis heute gerade in Yaloms Werken wichtige religiöse Fragestellungen zu finden und wollen die für sie spannende Auseinandersetzung mit den transzendenten Dingen nicht missen.

Intime Momente

Über weite Strecken der Dokumentation bleibt Yalom der große Gelehrte, der Arzt und Therapeut, der wichtige Lebensweisheiten zu verkünden hat, der sich durchaus vor der Kamera in Denkerpose gefällt. Es wird spürbar, dass analytische Psychotherapie und Yaloms Bücher die Filmemacherin „auf ihrer Reise zu sich selbst“ stark geprägt haben. Dieses ehrfurchtsvolle Lehrer-Schüler-Verhältnis tut dem Film nicht immer gut. Doch Gisiger versucht sich aus dieser braven Rolle zu befreien und zeigt das Ehepaar Yalom beim Baden in einem Zuber. Der so ganz aus dem übrigen Duktus der Doku herausfallende „Befreiungsschlag“ der Regisseurin irritiert und misslingt.

Doch dann stellt uns Gisiger die vier mittlerweile erwachsenen Kinder des Ehepars Yalom vor und schafft plötzlich ganz nahe intime Momente. Es sind Szenen, die auch mit Scheitern zu tun haben, denn das Ehepaar Yalom ist ratlos, warum das Rezept ihrer eigenen, bereits 60 Jahre andauernden glücklichen Ehe nicht auf ihre Kinder übertragbar war. Alle vier haben ihre Ehepartner schon nach kurzer Zeit wieder verlassen. Hier kommt man im Film dem Menschen Yalom erstmals näher.

Schließlich geht es um das letzte Scheitern, die existenzbedrohende Endlichkeit des Menschen. Die Kamera nimmt den Zuseher mit zu einem Tauchgang des großen Meisters der Psychoanalyse. Yalom schnorchelt in Unterwasserlandschaften. Das Abtauchen in die existentiellen Nöte der Menschen, das Forschen nach der Wahrheit, das Konfrontieren mit Wünschen und Ideen haben Yalom ein Leben lang fasziniert und beschäftigt.

Was ist seine Antwort auf die große Frage nach dem Danach? Irvin Yalom führt seine Zuseher behutsam an der Hand. Letzter Trost sei nicht die Leistung des menschlichen Geistes, sich ein Leben nach dem Tod paradiesisch vorzustellen. Religionen erzählen Märchen, so sein harter Befund. Aus Jahrzehnten Psychoanalyse habe er die Überzeugung gewonnen, dass der Tod seinen Schrecken nur im Führen eines sinnvollen Lebens verliert. Bei Yalom gewinnt die Psychoanalyse als Vademecum gegen die Religion.

Marcus Marschalek, religion.ORF.at

Außerdem am Fr., 10. Oktober 2014

Yaloms Cure - Yaloms Anleitung zum Glücklichsein
Dokumentarfilm, 77 Minuten, engl. OF mit dt. UT
Österreich-Premiere in Anwesenheit von Regisseurin Sabine Gisiger.
20.00 Uhr, Votivkino.

Fill the Void
Spielfilm, 90 Minuten, hebr. OF mit dt. UT
De 18-jährige Shira lebt in einer orthodoxen chassidischen Gemeinde in Tel Aviv und bereitet sich auf die Heirat mit einem vielversprechenden jungen Mann vor. Doch dann stirbt unerwartet ihre Schwester.
Fr. 10.Okt. um 18.15 Uhr im Votivkino
und Do. 23.Okt. um 19.45 Uhr im De France

The Manor
Dokumentarfilm, 80 Minuten, engl. 0F
Ein persönliches Familienporträt in dem Cohen- nicht ohne Humor festhält, was seine Familie krank macht und was sie zusammenhält.
Fr. 10.Okt. um 22.00 Uhr im Votivkino
und Mo. 20.Okt. um 20.30 Uhr im De France

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