Josef Mengele: Nach-Auschwitz-Leben des KZ-Arztes

Das Jüdische Filmfestival präsentiert heute als Österreich-Premiere den argentinischen Streifen „Wakolda“ von Lucia Puenzo. Der dunkle Thriller handelt von dem berüchtigten Lagerarzt in Auschwitz, Josef Mengele.

Mengele überwachte in Auschwitz Selektion und Vergasung der Häftlinge. Außerdem verwendete er Menschen, die ihm für seine anthropologischen Forschungen brauchbar schienen, für grauenerregende Experimente.

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

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Eine filmische Erzählung über das Nach-Auschwitz-Leben des KZ-Arztes steht von Anfang an unter einer doppelten Gefahr. Einerseits droht die Versuchung, ihn zum Monster zu stilisieren und aus dem Grauen, das ihn aufgrund seiner Vergangenheit umgibt, allzu freudig Kapital zu schlagen. Andererseits könnte es verlockend sein, ihn gewissermaßen zu vermenschlichen, seine Motive verstehen zu wollen und die Auschwitzverbrechen von ihm abzustreifen wie eine längst vergangene Episode.

Ein unauffälliger Deutscher in Argentinien

Der argentinische Spielfilm „Wakolda“ (spanischer Titel: „El medico Aleman – Wakolda“) aus dem Jahr 2013 tappt in keine der beiden Fallen. Er hält zu Mengele Abstand und gibt nicht vor, ihm auf den Seelengrund zu blicken. Das Unheimliche, dem der Film durchaus Raum gibt, kommt aus den Ereignissen und nicht aus einer vordergründig zur Schau gestellten Abnormität des Verbrechers. Es liegt ein Schatten über ihm. Dafür sorgt schon das Vorwissen des Publikums, das besser informiert ist als die Protagonisten. Aus Zuschauerperspektive ist bekannt, wer das ist, der sich da artig an den Tisch setzt und seine Konversation in tadellosem Spanisch führt.

Screenshot Wakolda

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Für die Rolle des Josef Mengele konnte der deutsch-spanische Katalane Alex Brendemühl verpflichtet werden

Für diese dramaturgische Zurückhaltung ist die umsichtige Regie der heute 38jährigen Argentinierin Lucia Puenzo verantwortlich, wobei die wesentlichen Entscheidungen bereits im Drehbuch und in der literarischen Vorlage getroffen sind. Sowohl der Roman als auch seine Kino-Adaption stammen aus der Feder der Regisseurin selbst.

Für die Rolle des Josef Mengele konnte der deutsch-spanische Katalane Alex Brendemühl verpflichtet werden. Sein Mengele hat wie gesagt keine Mühe spanisch zu sprechen. Die Geschichte spielt in den Sechzigerjahren; seit 1949 lebte der Deutsche in Argentinien. Er hatte also genug Zeit, die Sprache zu erlernen. Über weite Strecken charakterisieren kühle Zurückhaltung und korrekte Freundlichkeit das Spiel Brendemühls. Die Abgründe des Mannes, den er darstellt, erscheinen dadurch umso bedrückender.

Reise nach Patagonien

Der Film beginnt mit einer Reise. Für Mengele ist Buenos Aires ein zu heißes Pflaster geworden. Der israelische Geheimdienst Mossad ist Adolf Eichmann und ihm auf der Spur. Mengele muss die Hauptstadt verlassen. Bei seiner Flucht nach Patagonien schließt er sich unter seinem Pseudonym Helmut Gregor einer Familie an. Eva und Enzo sind mit ihren Kindern nach Bariloche unterwegs, um am Ufer des Sees Nahuel Huapi ein geerbtes Kurhotel zu revitalisieren. Vor allem Enzo ist gegenüber dem merkwürdigen Fremden von Anfang an misstrauisch. Aber Gregor nähert sich der Familie mit sanfter Beharrlichkeit an und zieht schon bald in das eigentlich noch nicht eröffnete Hotel der Familie.

Der falsche Dr. Gregor zeigt sich vor allem an der zwölfjährigen Lilith interessiert. Sie wendet sich dem neuen Bekannten mit neugieriger Offenheit zu. Gleich zu Beginn zeigt sie ihm ihre Puppe namens Wakolda, die ihr Vater Enzo mit einem mechanischen Herz ausgestattet hat. Helmut Gregor bemüht sich Liliths Vertrauen zu gewinnen. Aber von Anfang an liegt ein Verdacht über dieser strategisch geplanten Annäherung. Hier bahnt sich kein sexueller Übergriff an. Was Mengele anzieht, ist der Umstand, dass Lilith für ihr Alter zu klein ist.

Er will sie behandeln und sie für seine Forschung verwenden; in seinem Fall ist das Missbrauch genug. Über die Vermittlung ihrer Tochter gewinnt auch Eva Vertrauen zu dem seltsamen Deutschen. Für ihn ist sie vor allem in einer Hinsicht interessant: Sie erwartet Zwillinge. Kleinwüchsigkeit und Zwillingsforschung zählten schon in Auschwitz zu den Hauptinteressen Mengeles.

Die Puppe als Ideal

In Bariloche hat der Mann aus Deutschland keine Mühe, eine Stelle als Arzt zu finden und seine Forschung mit dem Ziel, den arischen Idealmenschen zu schaffen, fortzusetzen. Sein Tagebuch ist voll von frankensteinischen Skizzen; Lilith wird zum oft beschriebenen Forschungsobjekt. Mit Zustimmung der Mutter hat er ihr eine schmerzhafte Wachstumskur verordnet.

Instinktiv nimmt der Vater seine Familie gegen den Eindringling in Schutz. Aber für kurze Zeit überwindet Helmut Gregor Enzos Misstrauen, indem er ihm zeigt, wie sehr er seine Leidenschaft für perfekt gebaute Puppen teilt. Er hilft Enzo sogar, eine ganze Fabrik für die von ihm entworfenen Porzellanpuppen einzurichten. Der Besuch in den Produktionsräumen gehört zu den nachhaltigsten Eindrücken des Filmes. Ohne viele Worte wird klar, warum sich Mengele an diesem Ort mit in Regalen geschlichteten Köpfen und Körperteilen so zu Hause fühlt. Nach und nach klar wird, dass Mengele weder seine wahnhaften Forschungsideen noch seine menschenverachtende Nazi-Ideologie aufgegeben hat.

Erst Eichmann, dann Mengele

Eine Agentin, die bald die wahre Identität Dr. Gregors entdeckt, erhält aus der Hauptstadt den Auftrag zuzuwarten: „Erst Eichmann, dann Mengele“. Eine folgenreiche Entscheidung. Die Agentin ist damit ihres Lebens nicht mehr sicher. Es ist bestürzend zu sehen, dass Mengele offenbar noch immer über zahlreiche Helfer verfügt. Sie helfen ihm, erneut den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Der gesuchte Kriegsverbrecher starb 1979 beim Schwimmen in einem brasilianischen Badeort.

Über das Leben Mengeles nach seiner Flucht 1949 über die berüchtigte „Rattenlinie“ – ausgestattet mit einem Pass des Roten Kreuzes - gibt es wenig gesichertes Wissen, dafür umso mehr Spekulationen und Vermutungen. Lucía Puenzo stützt sich für „Wakolda“ nicht nur auf historische Erkenntnisse; sie destilliert ihren Plot auch aus Gerüchten und Legenden. Am Ende des sehenswerten Filmes bleiben die Rätsel um Mengele ungelöst. Gut so.

Christian Rathner, religion.ORF.at

Außerdem am Montag 13. Oktober

Next Stop Green Village
Der am 30. Juni verstorbene Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Paul Mazursky gilt als einer der Großen des amerikanischen Autorenfilms. „Next Stop Green Village“ ist eine romantische Komödie aus dem New York der Fünfzigerjahre. Harry Lipinsky, ein junger Bursch aus den Bronx, zieht ins Village, das angesagteste Viertel New Yorks, und lernt dort viele neue Freunde kennen. Eingespannt zwischen einer nicht unkomplizierten Beziehung zu seiner Freundin und der nach wie vor überbordenden Liebe seiner Mutter versucht er seinem großen Traum ein Stück näher zu kommen: Er will als Schauspieler in Hollywood den Durchbruch schaffen.
18.00 Uhr, Votivkino, engl. OF

Diskussionsabend Carl Lutz – Der vergessene Held
Paul Lendvai, Szabolcs Szita, Heidemarie Uhl und Francois Wisard sprechen über den Schweizer Diplomaten, der in Budapest etwa 60.000 Juden vor den Vernichtungslagern der Nazis gerettet hat.
19.00 Uhr, Jüdisches Museum, Moderation: Charles Ritterband

Wakolda
Von Auschwitz nach Patagonien. Im Argentinien der 1960er Jahre macht eine Familie Bekanntschaft mit einem zuvorkommenden deutschen Arzt. Dieser wird zum ersten Dauergast im Familienhotel in Bariloche. Besonders interessiert zeigt er sich für die klein gewachsene Tochter des Hauses und die mit Zwillingen hochschwangere Mutter.
20:30, Votivkino, spanische OF mit englischen UT