Besucherrekord beim Jüdischen Filmfestival

Das Jüdische Filmfestival Wien 2014 geht heute zu Ende. Ein erster Rückblick zeigt: Hier ist viel gelungen. Mit an die 5.000 Besuchern ist dem Festival ein neuer Rekord gelungen.

Mit einer Dokumentation über das hebräische Lied Hava Nagila, das wie kaum ein anderes für das Judentum steht und gleichzeitig weit über dessen Grenzen hinaus bekannt ist und gesungen wird, klingt das diesjährige Jüdische Filmfestival Wien heute aus. Außerdem auf dem Programm des Schlusstages: Fill the Void (An ihrer Stelle), von Rama Burstein, der berührende israelische Spielfilm über eine junge orthodoxe Jüdin die nach dem Tod ihrer Schwester nach alter Tradition ihren verwitweten Schwager heiraten soll.

Und: Under the Same Sun, der Eröffnungsfilm aus Israel, in dem der palästinensische Regisseur Sameh Zoabi von einem israelisch-palästinensischen Solarprojekt erzählt, das nach vielen Schwierigkeiten auf beiden Seiten der Mauer zur Initialzündung einer grenzüberschreitenden Friedensdynamik wird.

Logo "Shalom Oida"

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Jüdisches Filmfestival Wien
religion.ORF.at begleitet das Jüdische Filmfestival Wien als Medienpartner und berichtet über ausgewählte Programmpunkte.

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Erfreuliche Zahlen

Eine erste Bilanz der vergangenen zwei Wochen fällt äußerst erfreulich aus. Der von der neuen künstlerischen Festival-Leiterin, Sarah Stross, thematisch weit gespannte Bogen im Programm inklusive Erweiterung des Angebots auf 44 Filme hat sich bezahlt gemacht. Noch bevor die endgültigen Besucherzahlen vorliegen, zeichnet sich ein Rekord von an die 5000 Besuchern ab – nach etwa 2000 im Vorjahr. Das erklärte Ziel ist damit erreicht: Das Festival hat neues Publikum erschlossen und vor allem auch das Interesse jüngerer Menschen geweckt.

Der von der Agentur Demner & Merlicek entworfene Werbeauftritt hat für eine enorme Steigerung der Sichtbarkeit gesorgt. Zwar stieß der saloppe Slogan „Shalom Oida“ bzw. „Oide“ neben vielfach geäußerter Zustimmung auch auf Kritik, aber der Bekanntheitsgrad des Festivals hat eindeutig von ihm profitiert. Die grellgelben Plakate und Programmbroschüren, aber auch Werbeträger wie T-Shirts, Tragtaschen, Free Cards und sogar Bier mit eigenem „Shalom-Oida“-Etikett haben auf eine Veranstaltung aufmerksam gemacht, die es wert ist wahrgenommen zu werden.

Immer schon war das Jüdische Filmfestival ein Geheimtipp, ein einladender Ort für Auseinandersetzung und Unterhaltung, bedeutend und unverzichtbar gerade in einer Stadt, in der schon lange vor dem Holocaust der Antisemitismus zum guten Ton gehörte.

Breites Thema mit fließenden Grenzen

„Wenn man nicht versteht, was jemand sagt, ist das oft ein gewaltiger Vorteil“, sagt Woody Allen alias Dan Bongo in „Fading Gigolo“. Dass nicht genau definiert ist, was „jüdischer Film“ eigentlich ist, ist ein großes Atout für ein Jüdisches Filmfestival. Das Judentum ist eine in sich vielfältige Religion, aber nicht nur eine Religion. Es ist eine in sich vielfältige Kultur, aber nicht nur eine Kultur. Es manifestiert sich im jüdischen Staat Israel und lebt gleichzeitig in der weltweiten Diaspora.

Es ist geprägt durch eine jahrhundertealte Verfolgungsgeschichte, aber auch durch Phasen ungestörter kultureller Blüte – und vor allem durch eine bunte und lebendige Gegenwart. Das Judentum verweist für alle Zukunft auf den Holocaust, auf eine millionenfache Geschichte des Leidens, auf das Erfrieren aller Moral und Menschlichkeit auf Seiten der Täter. Trotzdem wäre ohne den sprichwörtlichen jüdischen Humor jede Erzählung über das Judentum unvollständig.

Für ein Filmfestival ist diese Vielfalt äußerst produktiv, denn damit bietet sich eine enorme Vielfalt an Themen an. Herausforderungen religiös-orthodoxer oder säkular jüdischer Lebensgestaltung, Israel mit seinen faszinierenden und problematischen Seiten, Darstellungen der Geschichte von Vertreibung und Shoah, Familiengeschichten, filmhistorische Reminiszenzen bieten sich an, Spiel- und Dokumentarfilme kommen gleichermaßen in Betracht, und das Genre reicht vom Drama bis zur romantischen Komödie. Genau dieser Weite hat das Programm auf gelungene Weise Rechnung getragen.

Screenshot von "Under the Same Sun"

Jüdisches Filmfestival Wien

„Under the same Sun“ bildete den Rahmen des Jüdischen Filmfestivals Wien 2014: Der Eröffnungsfilm wird am letzten Tag des Festivals erneut gezeigt

Israel und sein Dilemma

Kein Jüdisches Filmfestival ohne Ausflug in das hochproduktive Filmland Israel. In den hervorragenden israelischen Produktionen, die heuer zu sehen waren, kommt die kritische Haltung der Filmemacher gegenüber der israelischen Politik des Status Quo deutlich zum Ausdruck. Under the Same Sun berichtet vom Entstehen einer grenzübergreifenden gigantischen Friedensbewegung. Aus heutiger Sicht ist etwas Derartiges höchst unwahrscheinlich. „Ein Märchen“, wie Produzent Amir Harel im Interview mit der ORF-„Orientierung“ sagte, „aber nur, weil es noch nicht passiert ist“.

Bethlehem von Yuval Adler stößt ins selbe Horn, ist aber ein gänzlich anderer Film. Die bedrückende Geschichte um einen jungen palästinensischen Burschen, der während der zweiten Intifada von einem israelischen Geheimdienstagenten als „Quelle“ namens Esau geführt wird, zeigt eine Welt, in der jeder jeden für seine Zwecke benützt. In seiner Ausweglosigkeit, die kein Happy End zulässt, ist der Film ein gewaltiger Schrei nach Frieden.

Auf der Suche nach Alternativen

Ein Film als historisches Ereignis ist die Dokumentation Gatekeepers von Dror Moreh, in dem sechs Chefs des Geheimdienstes Shin Bet über ihre Arbeit erzählen. Alle beklagen die Inaktivität der Politik, die lieber den derzeitigen unterschwelligen Kriegszustand aufrecht erhält als sich wirklich für eine Lösung des Palästina-Konflikts einzusetzen.

Nur auf Gewalt zu setzen, eröffne keinen Ausweg aus der derzeitigen Situation. Man gewinne zwar alle Schlachten, aber nicht den Krieg. Die das sagen, sind keine Vertreter der Friedensbewegung, sondern Geheimdienst-Leute, die in ihrem Berufsleben vor Gewaltanwendung und „gezielten Tötungen“ nicht zurückgeschreckt sind.

Filmplakat "cupcakes"

Jüdisches Filmfestival Wien

„Cupcakes“ von Eytan Fox

Selbst die süß und harmlos wirkende Komödie Cupcakes von Eytan Fox hat einen doppelten Boden. Dort landet ein Freundeskreis mit einem zufällig und spontan entstandenen Liedchen beim Eurovisions-Songcontest. Auf nostalgische Weise erzählt Fox hier von einem Israel, in dem die Menschen Nachbarn waren und zusammenhielten. Die Sehnsucht nach Frieden und Normalität dringt auch in diesem Film durch.

Sowohl Eytan Fox als auch Amir Harel berichteten am Rande des Festivals von einer schweren Depression, die derzeit über dem Land liege. Frieden und Ausgleich mit den Palästinensern seien in so weite Ferne gerückt, dass sich ein Großteil der Menschen damit nicht mehr auseinandersetzen wolle. Mehr denn je braucht das Land, brauchen Israelis und Palästinenser Solidarität und Unterstützung. Und einen konkreten Weg zum Frieden.

Jüdisches Leben

Besonders wertvoll sind Einblicke in religiöse Aspekte jüdischen Lebens. Der preisgekrönte Streifen Gett beleuchtet die Schwierigkeiten einer Frau, die vor dem Rabbiner-Gericht ihre Scheidung durchkämpfen möchte. Sie hat keine Chance, solange ihr Mann nicht einwilligt, ihr den Scheidungsbrief auszustellen.

Bei diesem fulminanten Kammerspiel, das sich nur im Gerichtssaal und dem dazugehörigen Wartezimmer abspielt, gelingt dem Regie führenden Ehepaar Ronit und Shlomit Elkabetz ganz nebenbei die Darstellung eines kleinen israelischen Kosmos mit französischen und spanischen Zuwanderern, mit Konflikten in der Synagoge, mit religiösen und weniger religiösen Rechtsgelehrten, mit der Beschreibung von Freundschaft und Nachbarschaft und natürlich mit dem eklatanten Machtgefälle zwischen Männern und Frauen.

Zwischen Tradition und Sehnsucht

Auch der schon erwähnte Film Fill the Void stellt eine Frau ins Zentrum und zeichnet ihren Gewissenskonflikt zwischen Traditionsbewusstsein und eigenen Sehnsüchten nach. „Saudade“, das portugiesische Wort für Traurigkeit und Wehmut, definiert sie als „Sehnsucht nach etwas, das es nicht gibt“. Es ist ein Schlüsselwort in John Turturros „Fading Gigolo“, der auf unterhaltsame und gleichwohl nachdenklich stimmende Weise Einsichten in das orthodoxe Leben eines New Yorker Außenbezirkes vermittelt.

Aus dem Aufeinanderprallen der Welten – hier der Gigolo, der seinen Körper für Geld an Damen vermietet, dort eine orthodox lebende Rabbiner-Witwe, für die jede Berührung durch einen Mann einen Regelverstoß darstellt – gewinnt der Film nicht nur Impulse für seinen zarten Humor. Er setzt auch Reflexionen in Gang, die über das übliche Kopfschütteln angesichts religiös normierter Lebensweisen weit hinausgehen. Was ist Berührung? Wie viel Schutz ist gut? Ist „Saudade“ als die Sehnsucht nach etwas, das es nicht gibt, nicht in allen Lebensformen anzutreffen?

In diesem Filmen wird nicht nur die Frage nach der Kompatibilität jüdisch-orthodoxer Existenz mit dem zeitgenössischen Leben diskutiert. Da leuchtet auch die Kraft der Tradition und macht für Außenstehende zumindest ansatzweise nachvollziehbar, warum Menschen ihr Leben auf diese Weise gestalten wollen.

Zivilcourage und „starke Menschen“

Ein erklärter Schwerpunkt des heurigen Festivals war die Darstellung couragierter Menschen, die ohne Wenn und Aber für ihre Überzeugungen eintraten. Oskar Schindler oder die beiden Schweizer Carl Lutz und Paul Grüninger, die konsequent Juden vor den Nazis gerettet haben: Ihr Beispiel ist für heute von hohem Wert. Denn auch heute ist es nicht so, dass der Einzelne gegenüber dem Kollektiv nichts ausrichten könnte. Der Talmud-Spruch „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“ hat von seiner Aktualität nichts eingebüßt.

Naturgemäß ist ein Jüdisches Filmfestival auch ein Ort, an dem man – so der Titel eines weiteren Schwerpunktes „starken Frauen und starken Männern“ begegnen kann. Die Widerstandskämpferin Käthe Sassmann im Porträt von Kurt Brazda, Ruth Beckermanns Großmutter und Mutter, deren Lebensweg sie in ihrer Familienrecherche Die papierene Brücke von 1987 nachzeichnet, der Fotograf Erich Lessing in der Darstellung Tizza Covis und Rainer Frimmels oder auch Arik Brauer, für den das Festival – nach der Vorführung einer Dokumentation von Helene Maimann - ein kleines Fest ausrichtete, sind nur einige davon.

Die Liste lässt sich aber noch fortsetzen: Regina Jones, die weltweit erste Rabbinerin in einem bemerkenswerten Filmessay von Diana Groó, Michla Schwarz, die erst nach Jahrzehnten erfährt, dass ihr Bruder das KZ überlebt hat, im berührenden Film ihrer Enkelin Yael Reuveny, die Pianistin Alice Herz-Sommer, die in Theresienstadt auftreten musste, in der preisgekrönten Kurz-Dokumentation von Malcom Clarke oder auch Fred Bondi, der im Dokumentarfilm von Luis-Albert Serrut mit 90 in seine alte Heimat Wien zurückkehrt: Die Fülle an tatsächlich couragierten, „starken“ Frauen und Männern sowie an berührenden Biografien war ein besonderer Schatz im Programm.

Warum das Böse?

Daneben kreiste das Festival auch heuer um die Abgründe des Menschlichen. „Das radikal Böse“ von Stefan Ruzowitzky über Soldaten, die in der Wehrmacht zu Mördern an wehrlosen Zivilisten wurden oder Vanessa Lapas „Der Anständige“ über die unglaublichen Widersprüche in Leben und Charakter des SS-Führers Heinrich Himmler trieben eine Frage voran, die vermutlich nie erschöpfend beantwortet werden kann und doch immer wieder gestellt werden muss: Wie war der Holocaust möglich? Wie konnten sich Menschen zu Verbrechen dieses Ausmaßes bereit erklären?

Geschichte und Gegenwart

Neben aktuellen Produktionen bot das Festival sehenswerte Ausflüge in die Filmgeschichte. Der erste – und erst kürzlich wieder aufgefundene – US-amerikanische Anti-Hitler-Film, Hitler’s Reign of Terror aus dem Jahr 1934 war als Europa-Premiere zu sehen. Mit Mamele wurde ein Filmklassiker in jiddischer Sprache aus dem Jahr 1938 gezeigt.

Auch Gentleman’s Agreement, der erste Hollywood-Film, der den Antisemitismus thematisierte, war ein lockendes Angebot für Cineasten. Dazu gab es ein Wiedersehen mit Charly Chaplins „Großem Diktator“ oder Filme zur Erinnerung an die jüngst verstorbenen Regisseure Paul Mazursky und Assi Dayan. Auf der anderen Seite des Spektrums standen neue Produktionen, die zum ersten Mal in Österreich gezeigt wurden. 14 Österreich-Premieren standen auf dem Programm. Dazu ein Bericht über das jüngste „Peace Camp“, das jüdische und palästinensische Kinder zusammenbringt.

Screenshot Hitler's Reign of Terror

Jüdisches Filmfestival Wien

Historisches war beim Jüdischen Filmfestival zum Beispiel in Form des ersten US-amerikanischen Anti-Hitler-Films „Hitler’s Reign of Terror“ zu sehen

Film Noir und „Night Laugh“

Der im wahrsten Sinne schwärzeste Beitrag kam aus Tschechien: David Ondricek erzählt seinen Krimi aus dem stalinistischen Prag der Fünfzigerjahre im Stil des Film Noir. Der Film geizt mit Licht, und auch die Aussichten für den Kommissar sind dunkel: Er möchte ein Verbrechen aufklären, das die gesamte Staatsmacht Vertretern der jüdischen Gemeinde in die Schuhe schiebt. Ein leuchtendes Beispiel für Zivilcourage, auch er.

Aber längst nicht alles ist dunkel. Unterhaltung und Humor gehören zum Judentum und zum Festival. In der Schiene „Night Laugh“ gab es vergnügliche Wiederbegegnungen mit Jerry Lewis und den Coen-Brothers. Israelische Komödien wie Cupcakes oder The Wonders verleiteten zum Schmunzeln, und auch die heutige Dokumentation Hava Nagila ist von vorwiegend fröhlicher Natur. Dabei ist der Unterhaltungsaspekt nicht auf Filme mit Humor-Stempel begrenzt. Filme sind nicht da um zu belehren, sie haben überhaupt keinen Zweck, sagt der große Dokumentarist Marcel Ophüls in seiner filmischen Autobiografie Un Voyageur“, die in seinem Beisein gestern präsentiert wurde. „Filme sind für sich selbst da. Sie können dich zum Lachen bringen und zum Weinen. Und zum Denken.“

Starke Frauen und Männer live

Ein Filmfestival lebt nicht nur von Filmen, sondern in bedeutendem Maß auch vom Zusatzangebot. Gespräche mit Regisseurinnen und –regisseuren und mit Zeitzeugen, Diskussionen über Filme und ihre Hintergründe, eine Lecture über den Antisemitismus im Zeichentrickfilm. Die Begegnung mit Menschen in Fleisch und Blut ist für die Lebendigkeit des Festivals abseits der Leinwand sehr wichtig. Durch persönliche Begegnungen wächst um das Festival herum ein internationales Netz von Bekannt- und Freundschaften, das nicht nur für die nächste Ausgabe, sondern auch außerhalb der zwei Festival-Wochen hilfreich sein kann.

Unverzichtbar für die Stadt

Das Jüdische Filmfestival ist über die Jahre zu einem unverzichtbaren Bestandteil im Leben der Stadt Wien geworden. Es ist kein exklusives Fest von und für Juden, sondern ein Ort offener Begegnung mit Themen, die weit über das Judentum hinaus von Interesse sind.

„Shalom Oida“, die Verbindung des hebräischen Grußes, der Frieden bedeutet, mit der flapsigen Slang-Vokabel weist vor allem auf eines hin: Selbstverständlichkeit. Das Judentum mit seinen vielfältigen Themen, mit seinen faszinierenden Seiten und seinen Schwierigkeiten, ist in Wien nicht zu Gast sondern zu Hause. Das war fataler Weise nicht immer so, aber das muss immer so bleiben. Im weiten Umkreis um dieses Festival hat die „kranke und krank machende, giftige Pflanze Antisemitismus“, von der Burgschauspielerin Elisabeth Orth in ihrer Eröffnungsrede sprach, keine Chance.

Mit dem letzten Abspann richtet sich der Blick auf das Jüdische Filmfestival 2015. Nach allem was heuer gelungen ist, liegt die Latte hoch.

Christian Rathner, religion.ORF.at

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