Das Werk: Wie Menschen ihr Selbst verlieren

Die katholische Gemeinschaft Das Werk steht derzeit massiv in der Kritik. Aussteigerberichte zeichnen ein Bild von Kontrolle, Abhängigkeit von Vorgesetzten und völligem Verlust jeglicher Individualität.

Erlebnisberichte von Aussteigerinnen und Aussteigern aus religiösen Gruppierungen sind immer mit Vorsicht zu genießen. Genauso inbrünstig wie sich Menschen auf solche Gemeinschaften einlassen und sich ihnen hingeben, fallen dann meistens auch Abwendung und Kritik aus.

Bei Doris Wagner scheint das etwas anders zu sein. Ihr kürzlich erschienenes Buch „Nicht mehr ich“, in dem Das Werk zwar nicht namentlich genannt, aber laut Recherchen verschiedener Medien dennoch eindeutig beschrieben wird, wirkt unaufgeregt. Wagner beschreibt, was sie erlebt hat - nicht mehr und nicht weniger.

Im Zentrum des Buchs steht das, was sie im Jahr 2008 in Rom als sexuelle Übergriffe eines Priesters erlebt hat, der ebenfalls Mitglied der Gemeinschaft war. Dieser beteuerte aber stets, es habe sich dabei um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt. Wagners Anzeigen in Österreich und Deutschland blieben deshalb auch ohne Ergebnis.

Buchcover "Nicht mehr ich"

edition a

Buchhinweis:

Doris Wagner: „Nicht mehr ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau."
edition a, 288 Seiten, 21,90 Euro

Völlige Apathie

Doch das eigentliche Thema des Buchs ist nicht sexueller Missbrauch, sondern das System, das ihn in den Augen der Aussteigerin erst ermöglicht hat. Die heute 30-Jährige erzählt in ihrem Buch die Geschichte ihrer achtjährigen Mitgliedschaft, im Zuge derer sie nach eigenen Angaben alles, was ihre Persönlichkeit ausgemacht hatte, ablegte und in völliger Apathie innerlich erstarrte.

Von der Außenwelt wurde sie fast komplett abgeschottet, Intimsphäre gab es nicht, und über alle Vorkommnisse in ihrem Leben - Zwischenmenschliches wie Gedankliches - musste sie von Beginn an mit der ihr zugeteilten "Verantwortlichen“ sprechen. Zunächst erfolgte das in wöchentlichen Gesprächsterminen, später musste sie auch schriftlich „Wochenberichte“ vorlegen.

Vorwürfe zurückgewiesen

Das Werk hat sich in den vergangenen Tagen mehrmals in Person des Regionalverantwortlichen für Österreich, Georg Gantioler, zu den Vorwürfen geäußert. In der ORF-Radiosendung „Praxis“ etwa sagte Gantioler, er könne sich nicht erklären, warum Wagner nicht früher ausgestiegen sei, wenn es ihr so schlecht ergangen sei. Andere frühere Mitglieder hätten das schließlich auch getan, als sie erkannten, dass das Leben in der Gemeinschaft doch nicht das Richtige für sie sei.

Wagners Buch bezeichnete Gantioler gegenüber „Praxis“ als „subjektive Sicht im Nachhinein“. Den Vorwurf der Kontrolle der Mitglieder hatte Gantioler schon zuvor in einer Stellungnahme zurückgewiesen. Die persönliche Freiheit werde nicht eingeschränkt.

Die Frau als Verführerin

Wagner zeichnet allerdings ein anderes Bild. Die Pflicht, ständig Rechenschaft abzulegen, habe nicht nur auf ihr Verhalten, sondern auch auf ihre Gedankenwelt Auswirkungen gehabt : Jede kleinste Bewegung und jeder Gedanke, der vom alltäglichen Leben im Kloster abwich, führte zu Gewissensbissen. Vor allem der Umgang mit den männlichen Mitgliedern der Gemeinschaft wurde penibel beobachtet und geregelt.

Beim Werk geht man laut Wagners Darstellung davon aus, dass Frauen in der Vermeidung sexueller Begegnungen die größere Verantwortung tragen als Männer. Sie würden pauschal als Verführerinnen vorverurteilt, schreibt sie. So seien die Schwestern in der Gemeinschaft stets dazu angehalten worden, sich keinesfalls allein mit männlichen Mitgliedern in einem Raum aufzuhalten. Die Verantwortung dafür lag aber ausschließlich bei ihnen.

Doris Wagner

edition a

Doris Wagner

Blicke und Körperhaltung kontrolliert

Doch die Maßnahmen, um zwischengeschlechtlichen Kontakt zu vermeiden, gingen noch weiter. Doris Wagner erzählt zum Beispiel von einer Unterredung mit ihrer „Verantwortlichen“ - also der Person, die für ihre geistliche aber auch praktische Begleitung zuständig war-, die im Buch anonymisiert „Schwester Hilga“ heißt: „Ich war mir nicht im Geringsten bewusst, was sie konkret an meinem Verhalten auszusetzen hatte. Ich hatte ja außer bei den Mahlzeiten überhaupt keine Berührungspunkte mit den Mitbrüdern und suchte sie auch nicht“, schreibt sie.

Als sich Wagner dann doch dazu durchrang, ihre Verantwortliche nach Details zu fragen, bekam sie zur Antwort: „So wie du heute Morgen P. Christoph den Kaffee eingeschenkt hast. Du hast ihn von unten herauf angesehen. Das geht so wirklich nicht. Oder wie du immer dasitzt und dastehst. Bemüh dich aufrecht zu stehen, Schultern hoch. Und achte darauf, wie du schaust. Und deine Stimme. Du sprichst viel zu leise. Trau dich, den Mund aufzumachen! Du hast so etwas Schüchternes, Zögerndes an dir. Das wirkt ungut.“

Krankheit als Belastung

Es gibt aber auch Männer in der Gemeinschaft, die unter den strengen Regeln leiden. Einer davon war der heute 35-jährige Darren Canning, der am vergangenen Sonntag bereits im ORF-Religionsmagazin „Orientierung“ Einblick in seine Geschichte gab. In einem schriftlichen Bericht, der religion.ORF.at vorliegt, geht er konkreter auf das ein, was er als „System aus religiösem Wahn, Überwachung und Unterdrückung“ bezeichnet.

Besonders deutlich sei die Zurückdrängung der eigenen Persönlichkeit dann sichtbar geworden, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft krank geworden sei, schreibt Canning. „Wenn du krank warst, wurdest du in dein Zimmer gesteckt, wo du keine Besucher hattest außer der Person, die dir dein Essen brachte.“ Andere Mitglieder seien angehalten worden, nicht nachzufragen, warum jemand nicht zum Essen oder zum Gebet erscheine. Und wenn doch jemand von einem Krankheitsfall erfuhr, war es nicht angebracht, zu fragen, wie es dem Mitbruder gehe.

„Für die Dauer einer Krankheit hat man einfach aufgehört, zur Gemeinschaft zu gehören, und wenn es vorbei war, kam man einfach zurück als wäre nichts gewesen“, so Canning. Als er fragte, wie das mit menschlichen Umgangsformen oder gar göttlicher Liebe vereinbar wäre, bekam er zur Antwort, dass eine Krankheit nicht zur Last für die Gemeinschaft werden dürfe.

Darren Canning

ORF

Darren Canning

Ständige Kontrolle

Wie Wagner berichtet auch Canning von ständiger Kontrolle durch die Verantwortlichen. „Jede deiner Wahrnehmungen wurde hinterfragt und die Prämisse war immer, dass jede Meinungsverschiedenheit mit den Vorgesetzten - auch wenn es um faktische Dinge ging - entweder ein Hinweis auf fehlenden Glauben oder auf eine versteckte Sünde war.“

Es sei als normal angesehen worden, dass Briefe von und an Freunde und Familienmitglieder von den Vorgesetzten gelesen wurden, schreibt Canning weiter. Wenn die Mitglieder selbst Briefe nach außen schickten, durfte darin nur Positives über die Gemeinschaft geschrieben werden. Niemand durfte erfahren, wenn es ihm schlecht ging, außer der direkt Verantwortliche.

Der Verzicht auf persönlichen Besitz ist in vielen Ordensgemeinschaften vorgeschrieben, bei Das Werk wird dieses Gebot aber rigoroser durchgesetzt: Darren Canning berichtet etwa, dass ihm einmal eine kleine Plastikstatue der Heiligen Maria weggenommen wurde, die er von seiner Schwester bekommen hatte. „Der finanzielle Wert der Statue war lächerlich und sie nahm fast keinen Raum ein. Die Aufforderung, sie wegzuwerfen, hatte keinen anderen Grund als dass sie mir wichtig war und eine Verbindung zu meiner Familie außerhalb der Gemeinschaft darstellte.“

Autorität im Heiligen Geist

Canning und Wagner zufolge sind die Vorgesetzten in der Gemeinschaft fast über jeden Zweifel erhaben. Und mit der Zeit nahmen auch sie diesen Glauben an. „Was auch immer sie in Ausübung ihrer Autorität sagten oder taten war vom Heiligen Geist geleitet. Wenn Bedenken geäußert wurden, wurde oft der Eindruck erweckt, dass darüber nachgedacht werde, aber verändert hat sich nie etwas.“

Wagner schreibt in ihrem Buch, dass sie so überzeugt von ihrer Berufung und von der Gemeinschaft als solcher war, dass sie völlig verlernte, zu widersprechen - egal, worum es ging. Sie sei nicht mehr sie selbst gewesen, sondern habe nur noch funktioniert. Sätze, die „ich will“ oder „ich will nicht“ enthielten, habe sie nicht einmal mehr denken können, sagte Wagner zuletzt in einem Fernsehinterview. Und so kam es auch zu jenen Ereignissen, die sie in ihrem Buch im Kapitel „Katastrophe“ beschreibt.

Keine Chance, sich zu wehren

Der Leiter des Hauses von Das Werk in Rom - im Buch heißt er „Pater Jodok“ - habe ihr mit der Zeit zunehmend nachgestellt, schreibt Wagner. Er sei an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht, habe ihr immer wieder Persönliches erzählt, was in der Gemeinschaft eigentlich verboten war, und habe sich schließlich auch körperlich genähert.

Als sie ihrer Verantwortlichen davon erzählte, kam die übliche Antwort: Sie müsse besser aufpassen und dürfe ihn nicht in Versuchung führen. Also beschloss Wagner, selbst das Gespräch mit dem Priester zu suchen und schrieb ihm einen Brief, in dem sie ihn an sein Zölibatsversprechen erinnerte. Er antwortete, dass er mit ihr sprechen müsse und dazu auf ihr Zimmer kommen wolle.

„Es gab mich nicht mehr“

Als er anfing, sie auszuziehen, schreibt Wagner, sei sie wie gelähmt gewesen. Sie wusste, dass sie mit niemandem darüber reden konnte, ohne wieder selbst als Schuldige hingestellt zu werden. Und so ließ sie es über sich ergehen. Einen ganzen Sommer lang, immer wieder. Sie wusste: Wollte sie in der Gemeinschaft bleiben, konnte sie sich an niemanden wenden. „Das Leben ging seinen Gang und nahm mich mit, wie eine verirrte arme Seele, die irrtümlicherweise ins Reich der Lebenden geraten ist, obwohl sie längt tot ist“, schreibt Wanger. „Es gab mich nicht mehr.“

Erst Jahre später, als sie innerhalb der Gemeinschaft einen Vertrauten fand, der selbst Zweifel hegte und sie dazu ermutigte, wieder selbst zu denken und auch Kritik zu äußern, schaffte sie es, diese Ereignisse einzuordnen und schließlich aus der Gemeinschaft auszutreten.

Geistiges und körperliches Wrack

Darren Canning musste etwas Derartiges nicht erfahren, war aber bei seinem Ausstieg aus der Gemeinschaft genauso wie Wagner sowohl geistig als auch körperlich ein Wrack. „Ich hatte gute Zeiten während meiner sechs Jahre in der Gemeinschaft, aber am Ende war ich körperlich gebrochen und wachte oft weinend auf, weil ich nicht während der Nacht gestorben war“, schreibt Darren Canning.

„Meine anfänglichen Zweifel wurden mir von meinen Vorgesetzten meist als Missverständnisse erklärt, oder als Gelegenheiten, meinen Glauben zu stärken. Später hatte ich tatsächlich die Befürchtung, ich würde einer Gehirnwäsche unterzogen.“

Michael Weiß, religion.ORF.at

Mehr dazu:

Links: