Deutsche Juden: Antisemitismus „verlagert sich“

Juden in Deutschland sehen sich in der Gegenwart mit einer neuen Form des Antisemitismus konfrontiert: Es finde eine Verschiebung vom „rechtsradikalen ins muslimische Milieu“ statt, so ein Experte.

„Es ist schwer zu bewerten, aber die Gefährdungen haben sich heute verschoben, vom rechtsradikalen ins muslimische Milieu“, sagte der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, Julius Schoeps, am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Berlin.

Der Antisemitismus habe nach seiner Ansicht zwei Ebenen, so der Historiker Schoeps: Den Rechtsradikalismus und die Auswirkungen des Nahost-Konflikts. „Man sollte den Nahost-Konflikt und die Situation der Juden in Europa trennen - aber man kann es nicht.“ Die Gefährdungsstufe sei in den letzten Monaten stark gestiegen, dennoch sei er optimistisch.

„Geschichte des deutschen Judentums vorbei“

Schwarz sieht Schoeps indes bezüglich der Zukunft des traditionellen Judentums in Deutschland. „Die Geschichte des deutschen Judentums ist vorbei, das ist zu Ende. Es ist absehbar, dass wir es in einigen Jahren mit einem Judentum zu tun haben, das keine deutschen Wurzeln mehr hat.“

Ein Rabbi geht in Berlin durch das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals

APA/dpa/lbn/Peer Grimm

Kaum noch jüdische Gemeinden mit Alteingesessenen gebe es in Deutschland, so Historiker Schoeps

Es gebe kaum noch Gemeinden mit Alteingesessenen in Deutschland, sagte Schoeps. Auch mit den einheitlichen Strukturen der Nachkriegszeit sei es vorbei. Heute sei eine Fragmentierung zwischen Liberalen und Orthodoxen zu beobachten. „Das ist eine Entwicklung, die vor 1933 ganz normal war und Pluralität bedeutet“, erklärte der Historiker, der vier Jahre lang (1993 bis 1997) Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien war.

Sterbeziffer siebenmal höher als Geburtenziffer

Sollte nichts Unvorhergesehenes passieren, sei mit einer rapiden Abnahme der Gemeinden von derzeit 107 mit rund 101.300 Mitgliedern auf etwa sieben in ganz Deutschland in 20 Jahren zu rechnen. Die Sterbeziffer sei heute siebenmal höher als die Geburtenziffer.

Dementsprechend stellt sich die Wahl des neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland am kommenden Sonntag dar: „Es sind die Nachgeborenen, die jetzt die Verantwortung übernehmen“, sagte der Wissenschaftler. Es werde am Wochenende zu einem Generationswechsel in der Führung des Zentralrats kommen, nicht mehr Zeitzeugen, sondern nach Ende des Zweiten Weltkriegs Geborene würden dort vertreten sein.

Zuzug russischer Juden

Die jüdischen Gemeinden in Deutschland hätten sich im letzten Vierteljahrhundert stark verändert, ergänzte Olaf Glöckner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses-Mendelssohns-Zentrum. Mehr als 200.000 russischsprachige Juden seien zugezogen, was zu einer Verdreifachung der jüdischen Gemeinden in Deutschland geführt habe. Die Basis vieler Gemeinden sei heute russisch.

Aufgrund restriktiver deutscher Zuwanderungsregeln liege der Zustrom derzeit bei höchstens 1.000 Juden aus Russland. Weniger als eine Million Juden würden noch dort leben, schätzt Glöckner. Seit dem Ende der Sowjetunion hätten rund zwei Millionen Juden deren Territorium verlassen, wobei die Hälfte nach Israel emigriert sei. Andererseits werde derzeit eine starke Zuwanderung von Israelis nach Berlin verzeichnet, berichtete Julius Schoeps: Junge und Künstler ebenso wie Geschäftsleute. Etwa 20.000 Israelis würden derzeit in der deutschen Hauptstadt leben.

Dennoch bereitet die Sicherheitslage den Juden in Deutschland Sorgen: „Nach der Vereinigung Deutschlands ist die Schändung jüdischer Friedhöfe - 400 gibt es im ehemaligen Osten, 1.800 im Westen - massiv angestiegen“, sagte der Historiker Schoeps. „Ich vertrete die These, dass es ein Indikator ist, wie es mit dem Antisemitismus aussieht, aber ich würde es nicht überbewerten.“

religion.ORF.at/APA

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