Hintergründe zum Völkermord an den Armeniern

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts haben zwischen 1,3 und zwei Millionen Armenier auf türkischem Staatsgebiet gelebt. Mit dem zunehmenden Verfall des Osmanischen Reichs wurden sie zu den Sündenböcken.

Die christlichen Armenier lebten in Anatolien seit dem 14. Jahrhundert unter der Herrschaft der Osmanen. Sie machten Schätzungen zufolge in diesem Gebiet zwischen 25 und 40 Prozent der Bevölkerung aus. Dazu kam eine große armenische Gemeinde in Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Die Armenier waren sozial nicht schlecht gestellt, allerdings wie alle anderen religiösen Minderheiten nicht den Muslimen gleich, sondern „Bürger zweiter Klasse“.

Blüte während Zeit der Religionsfreiheit

Sultan Abdülmecit hatte 1839 und dann nochmals erweitert 1856 allen Untertanen Religionsfreiheit gewährt. Das kirchliche Leben war danach aufgeblüht. Im ganzen Land wurden zahlreiche Kirchen sowie Missionsstationen, Schulen und karitative Einrichtungen gebaut und neue Diözesen errichtet.

Diese Periode fand mit Sultan Abdulhamid (1876 - 1909) ein jähes Ende. Mit dem zunehmenden Verfall des Osmanischen Reichs kam es zu immer größeren Spannungen. Die Armenier forderten mehr Rechte und Selbstverwaltung, einige politische Gruppierungen zielten auf einen eigenen Staat, und es kam zu Anschlägen auf osmanische Beamte. Die Behörden schlugen mit brutaler Gewalt zurück.

Bis zu zwei Millionen Armenier

1895 und 1896 kamen bei den Auseinandersetzungen Zehntausende Armenier ums Leben. Manche Quellen sprechen für damals bereits von mehr als 100.000 Toten. Weitere Massaker folgten 1908 und 1909 - wieder mit Zehntausenden Toten. Aus der Sicht vieler Türken waren die Christen schuld am Verfall des Reiches. Auch die Konkurrenz zwischen Russland und dem Osmanischen Reich gefährdete die Stellung der Armenier. Je nach Quelle und Schätzung lebten damals bis zu zwei Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Sendungshinweis

„Religion aktuell“, Ö1, 25.4., 18.55 Uhr

Als zwischen 1909 und 1912 auch die Balkan-Völker auf Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich drängten oder von den Großmächten annektiert wurden, spitzte sich die Situation zu: Die 1908 an die Macht gekommenen Jungtürken („Ittihadisten“) zielten auf ein einheitliches türkisches Reich und wollten Türkisch und den Islam als alleinige kulturelle und religiöse Basis durchsetzen. Für ethnische Minderheiten wie Armenie, aber auch für andere Christen war in diesen Vorstellungen kein Platz.

Armenier als Sündenböcke

Im Ersten Weltkrieg kämpfte die Türkei an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns auch gegen Russland. Dabei musste die osmanische Armee im Winterfeldzug 1914 im Kaukasus gegen Russland eine verheerende Niederlage einstecken. Als Sündenböcke wurden vor allem die armenischen Soldaten in der osmanischen Armee ausgemacht. Die Soldaten wurden entwaffnet und meist ermordet.

Die armenische Zivilbevölkerung war damals mehrheitlich loyal dem Osmanischen Reich gegenüber eingestellt, wenn auch einzelne armenische Guerillas die russischen Truppen unterstützt hatten. Die Regierung der Jungtürken beschuldigte allerdings die gesamte armenische Bevölkerung der Kollaboration mit den Russen.

Vor 100 Jahren: Startschuss zur Vernichtung

Am 24. April 1915 verhafteten Einheiten der osmanischen Geheimpolizei in den frühen Morgenstunden in Konstantinopel Hunderte Repräsentanten des armenischen Volkes - Senatoren, andere Politiker, Journalisten, Industrielle, Wissenschaftler, Künstler, Geistliche. Vom Bahnhof Haydarpascha im asiatischen Stadtteil Skutari aus wurden die Verhafteten nach Anatolien deportiert, wo die meisten den Tod fanden. Die Aktion in Konstantinopel war der Startschuss zur gezielten Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich.

In ganz Anatolien begannen die Behörden, die armenische Bevölkerung zu deportieren. Die zusammengetriebenen Menschen wurden von Polizisten, Soldaten oder meist kurdischen Hilfstruppen entweder gleich getötet oder auf Todesmärsche Richtung Syrien geschickt, das damals ebenfalls zum Osmanischen Reich gehörte.

Hunderttausende starben auf diesen Märschen an Hunger oder wurden ermordet. Und das Sterben ging auch in den Lagern in Syrien weiter. Unvorstellbare Grausamkeiten, von denen viele dokumentiert sind, wurden begangen. Die jungtürkische Zentralregierung ergriff dabei auch harte Maßnahmen gegen osmanische Beamte, die sich weigerten, die Deportations- und Tötungsbefehle umzusetzen. Nach der Deportation der Armenier Ostanatoliens wurden auch jene im Westen des Landes deportiert, ausgenommen die Armenier in Konstantinopel und jene, die in und rund um Smyrna (Izmir) lebten.

Politiker: „Endlösung“ der armenischen Frage

Die treibenden Kraft hinter den Vertreibungen und Massakern waren Kriegsminister Enver Pascha, Marineminister Cemal Pascha und Innenminister Talaat Pascha. Talaat Pascha sprach von der „Endlösung“ der armenischen Frage. Dass den Jungtürken rassistische Motive zugrunde lagen, wird unter anderem daran deutlich, dass in den Anweisungen zur Deportation und Vernichtung oft von der „verfluchten Rasse“ gesprochen wurde, die man auszurotten habe.

Menschen auf einem Berg menschlicher Gebeine und Schädel

APA/EPA

Armenische Opfer in den späten 1910er Jahren

Ein Detail am Rande: Die drei Hauptverantwortlichen des Völkermordes, die einen rein türkischen Nationalstaat schaffen wollten, waren selbst keine Türken. Enver Pascha stammte aus einer bosnischen Familie in Sarajevo, seine Mutter war Albanerin. Cemal Pascha hatte eine griechische Mutter, und Talaat Pascha war Pomake, also ein muslimischer Bulgare.

Die damalige türkische Führung spielte zum Teil aber auch die muslimische Karte aus, indem sie sich nicht türkischer muslimischer Gruppen wie der Kurden und Tscherkessen als Handlanger bediente. Gegenwärtig wird betont, dass es damals auch viele Muslime gab, die den Armeniern Hilfe boten und sie retteten - mehr dazu in Bischöfe gedenken des Armeniergenozids.

Deutschland und Österreich untätig

Deutschland und Österreich-Ungarn - beide Bündnispartner des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg - unternahmen so gut wie nichts gegen das Morden, obwohl man gut informiert war. Die deutschen Konsulatsbeamten aus allen Konsulaten in der Türkei berichteten von Todesmärschen und Massakern.

Der deutsche Vizekonsul in Erzurum hielt 1915 beispielsweise fest: „Die armenische Frage soll nun im gegenwärtigen Krieg gelöst werden“, und zwar „in einer Form, die einer absoluten Ausrottung der Armenier“ gleichkomme. Auch der deutsche Generalkonsul Johann Mordtmann meldete seiner Regierung, dass es der türkischen Regierung darum gehe, die Armenier zu vernichten.

Die österreichisch-ungarischen Behörden wussten über die Vorgänge in Anatolien ebenfalls Bescheid. Interventionsversuche etwa des österreichischen Botschafters in Konstantinopel, Janos Pallavicini, waren mehr als nur halbherzig und dementsprechend erfolglos. Als im August des Jahres 1915 die deutsche Regierung anfragte, was denn an den Gerüchten über die Armeniermassaker wahr sei, telegrafierte der türkische Innenminister kurz und bündig zurück: „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“

Auch andere Christen von Massakern betroffen

Neben den Armeniern waren von den Deportationen und Massakern auch die syrischen, assyrischen und chaldäischen Christen betroffen. Schon im März 1915 wurden rund 70 assyrische Dörfer in Ostanatolien zerstört. Kurden mordeten zusammen mit türkischen Einheiten in Gebieten, in denen hauptsächlich Christen lebten. Insgesamt wurden von 1915 bis 1918 rund eine halbe Million dieser Christen ermordet. Die Überlebenden der Massaker flohen in den Irak, nach Syrien und in den Libanon, viele auch nach Russland.

Der Widerstand einer kleinen Gruppe von Armeniern in der Gegend von Antiochien am Mittelmeer wurde weltweit bekannt und ging in die Literaturgeschichte ein: In seinem Erfolgsroman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ schilderte Franz Werfel, wie sich im Herbst 1915 mehrere tausend Armenier am 1.700 Meter hohen Mosesberg verschanzten. Kurz bevor sie aufgeben mussten, wurden sie von einem französischen und einem britischen Kriegsschiff gerettet.

Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten viele dieser Armenier in ihre Dörfer zurück, da diese im französischen Mandatsgebiet lagen. Als die Franzosen 1939 das Gebiet den Türken überließen, verließen die meisten Armenier wieder ihre Dörfer. Nur wenige blieben zurück und zwar in Vakifliköyü, das heute einzige armenische Dorf in der Türkei.

Bis zu 1,5 Millionen Opfer

Über die Zahl der Opfer gibt es keine genauen Angaben, was vor allem auch damit zusammenhängt, dass es keine genauen Zahlen über die Armenier beziehungsweise alle Christen im Osmanischen Reich vor dem Völkermord gibt. Die letzte, wiewohl sehr ungenaue, osmanische Volkszählung vor dem Ersten Weltkrieg wies rund 1,3 Millionen Armenier aus, das armenische Patriarchat bezifferte damals die Zahl der armenischen Christen im Osmanischen Reich mit gut zwei Millionen. So belaufen sich auch die Schätzungen der Zahlen der Ermordeten auf 300.000 bis 1,5 Millionen. Eine Kommission des osmanischen Innenministers bezifferte die Zahl 1919 mit 800.000.

Einige hunderttausend überlebten die Deportationen, wieder andere hatten sich vor den Deportationen retten können. In manchen Gegenden konnten Armenier der Ermordung entgehen, wenn sie zum Islam konvertierten. Eine große Zahl von Frauen und Kindern waren verschleppt und in muslimische Familien gebracht worden, wo sie zwangsweise zum Islam konvertieren mussten. Die Nachkommen dieser Menschen, die zwar offiziell als Muslime gelten, sich selbst aber oft als Christen sehen - sogenannte Kryptoarmenier oder Kryptochristen - machen laut Schätzungen in der Türkei heutzutage mehrere hunderttausend Menschen aus.

Verurteilungen und Amnestien für Kriegsverbrecher

Die Gewalttaten hatten ein Nachspiel, das Rechtsgeschichte schrieb: Nach dem Weltkrieg drängten die westlichen Siegerstaaten erstmals auf Kriegsverbrecherprozesse. Ein türkisch besetztes Kriegsgericht in Istanbul stellte fest, dass die Verbrechen zentral vorbereitet wurden, und verurteilte 1919 17 Angeklagte zum Tode, konnte aber nur drei Hinrichtungen vollziehen. Die Haupttäter - Enver, Cemal und Talaat Pascha - hatten schon zuvor mit deutscher Hilfe fliehen können. Sie wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

Mustafa Kemal Atatürk, Begründer und erster Präsident der Republik Türkei, befürwortete zunächst die Prozesse, schwenkte dann aber um. Der Friedensvertrag von Sevres (1920) hatte die Türkei so ramponiert, dass Griechenland die Situation für einen Angriff auf die Resttürkei nutze. Atatürk nahm Kriegsverbrecher, die führend bei Massakern beteiligt waren, in die Regierung auf. 1923 erließ die türkische Regierung unter Atatürk schließlich eine allgemeine Amnestie.

Talaat Pascha wurde 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten, der aus einem Massengrab flüchten konnte und sich einer armenischen Geheimorganisation angeschlossen hatte, erschossen. Beim Prozess gegen diesen Studenten, der letztlich freigesprochen wurde, konnten Zeugen und Fachleute Beweise vorlegen, dass es sich um Völkermord gehandelt hatte und Talaat Pascha einer der treibenden Kräfte gewesen war. Cemal Pascha wurde 1922 in Tiflis (Georgien) erschossen, Enver Pascha starb im gleichen Jahr bei Kämpfen in Tadschikistan.

Viele Armenier kamen auch nach 1918 noch im Rahmen des Türkischen Befreiungskrieges ums Leben. 1923 lebten im Gebiet der heutigen Türkei Schätzungen zufolge nur mehr weniger als 100.000 Armenier - heute sind es etwa 60.000. Bis heute lehnt die Türkei den begriff „Völkermord“ im Zusammenhang mit den Armeniern ab und spricht von Opfern des Ersten Weltkriegs.

religion.ORF.at/KAP

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