Tibet: „Kulturelle und religiöse Vergewaltigung“

Der Sondergesandte des Dalai Lama in Europa, Kelsang Gyaltsen, hat bei seinem jüngsten Österreich-Besuch mit religion.ORF.at unter anderem über die Lage in Tibet und die Frage nach dem nächsten Dalai Lama gesprochen.

Journalisten ist die Einreise nach Tibet nicht erlaubt, weshalb es nur wenige Informationen über die Zustände in der von China kontrollierten Region gibt. Die Exiltibeter werfen der restlichen Welt vor, tatenlos zuzusehen, wie das Land und seine Kultur systematisch ruiniert werden.

religion.ORF.at: Herr Gyaltsen, Sie waren acht Jahre lang mit dem Dialog mit China beauftragt - was hat diese Zeit gebracht?

Gyaltsen: Wir haben 2002 einen Dialog mit der chinesischen Seite beginnen können - die letzte Zusammenkunft gab es 2010. Insgesamt sind wir in dieser Zeit zehn Mal zusammengekommen. Wir haben versucht, von tibetischer Seite aus der chinesischen Regierung klarzumachen, dass der Dalai Lama und die tibetische Regierung im Exil keine Trennung oder Unabhängigkeit Tibets anstreben, sondern eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen des chinesischen Staatsverbands - sodass es den Tibetern möglich ist, in der eigenen Heimat die eigene Kultur, Sprache, Religion und Tradition zu bewahren und zu pflegen.

2008 haben wir der chinesischen Regierung ein Memorandum mit unseren Vorstellungen über eine echte Autonomie für das tibetische Volk im Rahmen des chinesischen Staatsverbands übergeben. Aber leider hat die chinesische Seite unsere Vorschläge allesamt zurückgewiesen und sie als versteckte Forderung nach Unabhängigkeit interpretiert. Aufgrund dieser Situation konnten wir keine Fortschritte erzielen.

Der Sondergesandte für Europa des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen

Tibet Bureau Genf

Kelsang Gyaltsen

religion.ORF.at: Worin liegt das größte Problem?

Gyaltsen: Ich glaube nicht, dass die chinesische Führung den politischen Willen hat, das Tibet-Problem anzupacken und eine Lösung zu suchen. Und deshalb versteckt sie sie hinter der Anschuldigung, dass die Tibeter nach Unabhängigkeit und Trennung streben würden. Wir haben unsererseits alles Erdenkliche getan, um der chinesischen Seite klarzumachen, dass wir keine Unabhängigkeit oder Trennung anstreben, sondern eine echte Autonomie. Aber die chinesische Seite fährt fort, sich hinter dieser Anschuldigung zu verstecken und einen Dialog mit den Tibetern zu verweigern.

Biografische Daten

Kelsang Gyaltsen wurde 1951 in Tibet geboren, verbrachte ab seinem zwölften Lebensjahr 20 Jahre in der Schweiz. In den Jahren 2002 bis 2010 war er mit dem Dialog mit China beauftragt, seit 2012 fungiert er als Sondergesandter des Dalai Lama in Europa.

In dieser Situation, glaube ich, muss jetzt eine dritte Partei eingreifen. Die internationale Gemeinschaft ist jetzt gefragt, vermittelnd und helfend einzugreifen, um das gegenseitige Misstrauen abzubauen und Vertrauen auf beiden Seiten aufzubauen. Ohne die Intervention einer dritten Partei und der internationalen Gemeinschaft sehe ich wenig Möglichkeit, diese Kluft zu überbrücken.

religion.ORF.at: Zum Dalai Lama: China hat erklärt, den nächsten Dalai Lama bestimmen zu wollen - geht das überhaupt?

Gyaltsen: Natürlich geht es nicht, dass eine Regierung in die religiösen Belange einer Glaubensgemeinschaft eingreift. Und es geht noch weniger, wenn es sich um eine atheistische, kommunistische Regierung handelt, die Religion als „Opium für das Volk“ betrachtet. Wenn sich eine solche Regierung anmaßt, für die Wiedergeburt des nächsten Dalai Lama zuständig zu sein, dann ist das so eine krasse Verletzung der tibetischen religiösen Werte und Gefühle.

Tibetische Pilger auf dem Kailasch-Berg, einem der heiligsten buddhistischen Plätze

APA/EPA/Wu Hong

Für Reisen oder Pilgerfahrten müssen Tibeter im Gegensatz zu Chinesen bis zu fünf Formulare beantragen. Hier: Pilger beim heiligen Berg Kailash

Verhältnis China-Tibet

China hält Tibet seit dem Jahr 1951 besetzt und kontrolliert die autonome Region sowie die anliegenden Provinzen, in denen ebenfalls zahlreiche Tibeter leben, mit harter Hand. Aus Protest gegen die chinesische Herrschaft haben sich in den vergangenen Jahren mehr als 140 Tibeter selbst angezündet.

Hier sehen wir deutlich, dass die Besetzung Tibets und die Herrschaft der Chinesen über das tibetische Volk nicht nur politische Unterdrückung beinhaltet, sondern dass es hier um die kulturelle, religiöse und sprachliche Vergewaltigung eines ganzen Volkes geht. Auch hier ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft klar Stellung bezieht, dass eine solche eklatante Einmischung einer Regierung in die religiösen Belange einer Religionsgemeinschaft nicht akzeptierbar und tolerierbar ist.

religion.ORF.at: Wie ist das Leben für die Tibeter jetzt in ihrem eigenen Land?

Die Situation für die Tibeter in Tibet hat sich seit 2008 dramatisch verschlechtert. Die Tibeter haben nicht nur mit einem starken Zustrom durch Chinesen zu leben, die die Tibeter in die Minderheit versetzen, sondern seit 2008 - als es zu großen Unruhen in Tibet kam - hat eine massive Verschärfung der Präsenz von Polizeikräften und Militär stattgefunden.

In entlegendsten Dörfern wurden Polizeistationen errichtet und die Videoüberwachung der Bevölkerung - vor allem in den Städten - ist massiv und dicht. Die Bewegungsfreiheit der Tibeter ist stark eingeschränkt. Wenn zum Beispiel Tibeter in einem anderen Bezirk Verwandte oder Freunde besuchen wollen, müssen sie drei, vier, fünf Genehmigungen einholen. Chinesen können überall frei herumreisen.

Es hat sich auch die sogenannte patriotische Erziehungskampagne sehr intensiviert. Das heißt, in den Klöstern, in den Schulen, an den Arbeitsplätzen werden Tibeter zu Sessions gezwungen, in denen sie den Dalai Lama verunglimpfen und Loyalität mit der chinesischen kommunistischen Partei bekunden müssen.

Kürzlich hat der chinesische Parteisekretär in Tibet gefordert, auf allen Klöstern die chinesische Fahne zu hissen und als Propaganda-Zentralen für die kommunistische Regierung zu fungieren. Das ist ein wirklich krasser Missbrauch von Klöstern und dem tibetischen Volk.

religion.ORF.at: Der jetzige Dalai Lama, Tenzin Gyatso, hat bereits mehrmals angekündigt, es würde vielleicht keine Inkarnation des Dalai Lama mehr geben. Was würde das für die Tibeter bedeuten?

Gyaltsen: Wenn es keinen Dalai Lama mehr geben würde, würden die Tibeter natürlich ein Gesicht verlieren, das in der Welt als Symbol für Tibet steht. Den tibetischen Buddhismus gab es aber schon lange, bevor die Tradition des Dalai Lama begonnen hat, daher bin ich überzeugt, dass der tibetische Buddhismus auch weiterlebt, wenn es keinen Dalai Lama mehr geben würde. In der derzeitigen schwierigen Situation ist es aber natürlich sehr wichtig, eine Integrationsfigur wie den Dalai Lama zu haben, der ihre Bestrebungen nach Freiheit und ihren Grundrechten bündelt.

Seit Beginn seines Exils (1959, Anm.) hat der Dalai Lama in weiser Voraussicht Schritt für Schritt begonnen, die tibetische Exilgemeinschaft zu demokratisieren. So ist es uns in den letzten 50 Jahren gelungen, im Exil eine sehr effiziente, intakte und funktionierende Institution aufzubauen. Auch wenn der Dalai Lama nicht am Leben ist, wird das tibetische Volk vor großen Herausforderungen stehen, aber er hat die demokratischen Strukturen geschaffen, sodass die Bestrebungen des tibetischen Volkes weitergehen werden.

Der Dalai Lama umringt von Gläubigen im indischen Exil

APA/EPA/Sanjay Baid

Der Dalai Lama lebt seit 1959 im indischen Exil

religion.ORF.at: Themenwechsel: Der Buddhismus gilt im Allgemeinen als friedliche Religion. Was bewegt buddhistische Mönche in Burma (Myanmar) dazu, teilweise gewaltsam gegen die muslimische Minderheit vorzugehen?

Gyaltsen: Das macht deutlich, dass Buddhisten einfach auch Menschen sind und auch Buddhisten sind anfällig für Hass, Fremdenfeindlichkeit und Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen. Der Dalai Lama hat, als er von den Konflikten in Burma gehört hat, einen Appell an die Buddhisten in Burma gerichtet und gesagt: Wenn ihr einen Muslim seht, dann versucht ihn euch als Buddha vorzustellen. Das kann helfen, die Ressentiments zu schwächen und für andere Gefühle Platz zu machen.

religion.ORF.at: Wirkt das?

Gyaltsen: Ich hoffe schon! Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in Burma die große Mehrheit der Buddhisten ist, die sich zu solchen Feindseligkeiten gegenüber Muslimen verleiten lässt. Ich bin sicher, dass die Mehrheit der Buddhisten eine friedliche Koexistenz mit den Muslimen haben wollen.

religion.ORF.at: Was bedeutet es aus Ihrer Sicht, dass der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer den Dalai Lama bei dessen Österreich-Besuch 2012 nicht empfangen hat?

Gyaltsen: Ich glaube, wenn freie Demokratien so eingeschüchtert sind, dass sie mit jemandem wie dem Dalai Lama, der für die große Mehrheit der Weltbevölkerung überzeugend für Gewaltlosigkeit, Versöhnung, für interreligiösen und interkulturellen Dialog eintritt, nicht zusammenkommen möchten, dann ist das ein trauriges Zeugnis für unseren Freiheitsbegriff.

Vor allem, weil die westlichen Demokratien ja das Prinzip der Menschenrechte als universell und unteilbar ansehen - dazu muss man auch stehen! Daher war es eine unkluge Entscheidung. Aber in meinem Alter weiß man, wie die Realität in der Welt aussieht, und dass nicht alle Menschen nach Überzeugungen und Prinzipien handeln.

Es ist wichtig für Oberhäupter von Demokratien, dass sie für fundamentale Menschenrechte und Freiheiten einstehen - auch wenn es von einem mächtigen Land wie China Einschüchterungsversuche und Druck gibt.

Das Gespräch führte Nina Goldmann; religion.ORF.at

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