Friedliches Miteinander der Religionen in Notschlafstellen
In den Wiener Notschlafstellen herrscht ein friedliches Miteinander der Bewohnerinnen und Bewohner, anders als in manchen deutschen Flüchtlingsunterkünften wie zum Beispiel im thüringischen Suhl oder zuletzt in Kassel, wo es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit teils mehreren Verletzten gekommen ist.
Vor diesem Hintergrund hatte etwa die Deutsche Polizeigewerkschaft gefordert, Flüchtlinge künftig nach Religionszugehörigkeit getrennt unterzubringen. In den Wiener Unterkünften wird nach der Religionszugehörigkeit von Flüchtlingen nicht gefragt. Dies erscheine nicht von Bedeutung, wie von verantwortlicher Stelle betont wird.
Lokalaugenschein am Hauptbahnhof in Wien
Die Betreuung der Flüchtlinge am Hauptbahnhof erfolgt durch „Train of Hope“, einen parteilosen und organisationsunabhängigen Zusammenschluss von Freiwilligen, wie man sich auf der eigenen Website selbst beschreibt. „Train of Hope“ organisiert und koordiniert ehrenamtlich die Soforthilfe für „Refugees am Hauptbahnhof Wien“.
ORF/Martin Cargnelli
Auf Anfrage von religion.ORF.at berichtete „Train of Hope“, dass auf dem Hauptbahnhof Christen stark in der Minderzahl seien und zumeist nicht sehr lange verweilen würden. „Sie fahren dann gerne in von christlichen Organisationen betriebene Notschlafstellen, zumeist mit dem Taxi“, berichtete ein für das Einsteigen in die Transferbusse zuständiger Mitarbeiter von „Train of Hope“.
ORF/Martin Cargnelli
Der Großteil der Flüchtlinge wird mit Autobussen des Bundesheeres zu Notschlafstellen mit einer Kapazität von mehr als 50 Personen gebracht. Hier wird vor allem auf die gemeinsame Unterbringung von Familien geachtet, mehr wird nicht erhoben.
Caritas und Erzdiözese mit Disziplin zufrieden
Auf Anfrage von religion.ORF.at bei der Caritas berichtet Pressesprecher Martin Gantner, dass es bisher keinerlei Streitigkeiten oder gar Handgreiflichkeiten unter Flüchtlingen gegeben habe. Ähnliche Erfahrungen hat auch der Flüchtlingskoordinator der Erzdiözese, Rainald Tippow, gemacht.
ORF/Martin Cargnelli
In kirchlichen Einrichtungen in Wien wurden im September laut Erzdiözese Wien etwa 15.000 Übernachtungen ermöglicht. Dabei habe es eine „kleine Rangelei“, jedoch ohne Polizeieinsatz gegeben. Tippow erwähnt im Gespräch mit religion.ORF.at auch, dass wesentlich mehr Männer als Frauen untergebracht worden seien.
ORF/Martin Cargnelli
Ende September lag das tägliche Angebot an Übernachtungsmöglichkeiten in Pfarren bei etwa 450 Schlafplätzen. Genutzt wurden davon etwa 300 pro Nacht. Eher ungenutzt blieben dabei Räumlichkeiten mit einer geringen Anzahl an Schlafplätzen. Diese wurden hauptsächlich von christlichen Einzelpersonen und Familien genutzt.
Bei den kirchlichen Unterbringungsmöglichkeiten in der Erzdiözese Wien zeichnet sich ein Trend zum Umbau zu Grundversorgungsquartieren ab. Dies liegt laut Erzdiözese Wien darin begründet, dass ein täglicher Wechsel von Schlafgästen für die Pfarren ein großer logistischer Aufwand sei.
Lokalaugenschein in der Notschlafstelle
Das Rote Kreuz betreibt in Wien fünf Häuser, so auch die Notschlafstelle in der Vorderen Zollamtsstraße. Hierbei handelt es sich um ein ehemaliges Amtsgebäude des Bundesministeriums für Finanzen.
ORF/Martin Cargnelli
Mit einer Kapazität von regulär 1.200 Übernachtungsplätzen und einer Maximalbelegung von 1.300 Personen zählt diese Notschlafstelle zu den größten in Wien.
ORF/Martin Cargnelli
Piktogramme sollen den Flüchtlingen eine gewisse Orientierungsmöglichkeit geben. Ein kostenloses WLAN ermöglicht den Flüchtlingen die Kommunikation, die ebenfalls zur guten Stimmung beiträgt.
ORF/Martin Cargnelli
Soweit die Beobachtungen über das friedvolle Zusammenleben der Flüchtlinge in Wiener Notschlafstellen, doch wo könnte das Problem in Deutschland liegen?
Konfliktforscher: „Religion nicht Hauptauslöser“
Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick sieht die Religion nicht als Hauptauslöser für die derzeitigen Auseinandersetzungen in Flüchtlingsunterkünften. „Religion wird zur Rechtfertigung herangezogen“, sagte der Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld der Nachrichtenagentur AFP.
Es gäbe eine ganze Reihe von Faktoren, die zur Eskalation führen könnten, wie die fehlende Privatsphäre und Rivalitäten zwischen Gruppen. Solch eine Gruppenbildung werde durch die Verunsicherung, die Langeweile sowie die Stresssituation in großen Unterkünften befördert. „Je länger die Menschen in Unterkünften konzentriert sind, desto häufiger werden sie versuchen, durch Gruppen Organisationsstrukturen zu schaffen“, sagte Zick.
Zudem träfen in den Flüchtlingsunterkünften viele Menschen mit konfliktbeladenen Lebensgeschichten und natürlich auch mit verschiedener Religionszugehörigkeit zusammen. Diese schwelenden Konflikte könnten dann eskalieren. Die religiöse Bindung dürfe aber nicht überbetont werden, weil das auch in der Gesellschaft keine Rolle spiele, meinte Zick. Die Forderungen nach einer Trennung von Flüchtlingen nach Religion und Herkunft wären daher zu kurz gedacht.
Mögliche Unterschiede zu Deutschland
Wo könnten nun die Ursachen für Unterschiede im Verhalten von Flüchtlingen in Deutschland und Österreich liegen? Man könnte argumentieren, dass die in Österreich ankommenden Flüchtlinge zumeist sehr müde und erschöpft von der Reise durch mehrere Balkanländer seien. In Deutschland hingegen hätten die Flüchtlinge schon ein paar weniger anstrengende Tage ihres Aufenthalts in Österreich hinter sich.
ORF/Martin Cargnelli
Ein wesentlicher Unterschied könnte auch in der Art der Unterbringung gesehen werden. Denn nicht nur das Gebäude in der Vorderen Zollamtsstraße, sondern auch viele andere Notschlafstellen sind frühere Amtsgebäude. In diesen gibt es in ehemaligen Büroräumen Schlafplätze für jeweils etwa sechs Personen. Die Unterbringung in kleineren Räumen ermöglicht ein Mindestmaß an Privatsphäre. Die Probleme in deutschen Flüchtlingsunterkünften ereigneten sich in Unterkünften mit vielen Personen auf engstem Raum.
ORF/Martin Cargnelli
Allerdings bestätigten sowohl Flüchtlingskoordinator Tippow, „Train of Hope“ als auch die Caritas auf Anfrage, dass es in Wien selbst in den Notschlafstellen mit größeren Schlafsälen friedlich auf engstem Raum zugehe. Norbert Kittenberger von „Asyl in Not“ fügte noch hinzu, dass auch österreichweit keinerlei Ausschreitungen unter Flüchtlingen verzeichnet worden seien. Alle befragten Institutionen bekräftigten, dass die in Deutschland geforderte Trennung nach Religionen in Österreich kein Thema sei.
Martin Cargnelli, religion.ORF.at
Mehr dazu:
- Vatikan: Religion bei Asyl kein Kriterium
(religion.ORF.at; 01.10.2015) - Pfarrer Faber führte Flüchtlinge durch Stephansdom
(religion.ORF.at; 01.10.2015) - D: Polizeigewerkschaft für Unterbringung nach Religionen
(religion.ORF.at; 28.09.2015) - Kardinäle in Flüchtlingsquartier am Stephansplatz
(religion.ORF.at; 26.09.2015) - Pfarren stellen Notquartiere bereit
(religion.ORF.at; 12.09.2015)