Theologin: In Flüchtlingskrise eigene Werte überprüfen

Die aktuelle Flüchtlingskrise ist nach Ansicht der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak auch eine Chance, die eigenen Wertvorstellungen zu überprüfen, wie sie sie am Wochenende bei einem Symposion in Wien sagte.

„Wir reden immer groß von den europäischen Werten, die die Flüchtlinge annehmen müssen, dabei geht eine kritische Selbstbetrachtung aber komplett verloren“, kritisierte Polak. Unter dem Motto „Vielfalt hat Zukunft“ beleuchteten Experten aus Wirtschaft, Politik und Religionen dabei im Rahmen der zweitägigen Herbsttagung des Katholischen Akademikerverbands Österreichs (KAVÖ) im Schatten des Terrors von Paris zahlreiche Fragen rund um Europa und dessen Zukunft als „Projekt einer demokratisch getragenen versöhnten Verschiedenheit“.

Regina Polak

ORF/Marcus Marschalek

Die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak

Polak warnte dabei am Samstag im Otto-Mauer-Zentrum auch vor einer Vereinnahmung von Werten durch die Politik. „Es ist naiv zu glauben, Werte am grünen Tisch bestimmen oder verordnen zu können“, äußerte sich die an der Universität Wien lehrende Theologin in ihrem Referat unter dem Titel „Wertegemeinschaft Europa?“ kritisch zur jüngsten Debatte zu verpflichtenden Werteschulungen für Flüchtlinge. Werte würden auch in der Zukunft Europas eine gewichtige Rolle spielen, jedoch nicht anhand einer „Wertefibel“, die genau die „europäischen Werte“ definiere.

Stabile starke Werte in Westeuropa sind aus Polaks Sicht Demokratie und Familie. Religion stehe in manchen Ländern noch hoch im Kurs, aber kein gemeinsamer europäischer Wert mehr, so Polak. Für die Österreicher belegten die Daten der Europäischen Wertestudie eine große Angst gegenüber allem Fremden. Subjektive Erfahrungen spielten beim Thema Werte eine entscheidende Rolle, führte die Forscherin aus. In der aktuellen Lage wären daher Impulse für versöhnliche Begegnungen mit Fremden von großer Wichtigkeit.

Kuhn: EU vor „Zerreißprobe“

Für den Europa-Referenten der Österreichischen Bischofskonferenz, Michael Kuhn, ist die Europäische Union in näherer Zukunft mit drei großen Problemen konfrontiert: „Derzeit sind vor allem die Attentate von Paris medial präsent, aber auch die Flüchtlingsproblematik und nicht zuletzt die Griechenlandkrise stellen die EU vor eine Zerreißprobe“, sagte er bei der KAVÖ-Tagung. Kuhn leitet das Vertretungsbüro der Bischofskonferenz in Brüssel und wohnt selbst nicht weit vom Brüsseler Stadtteil Molenbeek entfernt, aus dem vier der Attentäter von Paris stammten. In Molenbeek herrsche über 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit und die belgische Gesellschaft schaffe es nicht diesen Menschen Bildung und Arbeit zu ermöglichen, schilderte er.

Beim Umgang mit den Geflüchteten, die aktuell in Europa ankommen, ortet der Europa-Experte zu wenig Lösungskompetenz in der Politik. „Die Zivilbevölkerung und auch die Kirchen setzen sich verstärkt für Flüchtlinge ein, in der Politik brauchen wir diesbezüglich eine neue Mentalität“, sagte Kuhn.

„Schleichende europäische Desintegration“

Weitere Referenten bei der Tagung war unter anderen der Leiter des privaten Hochschullehrgangs für islamische religionspädagogische Weiterbildung, Mohamed Bassam Kabbani, und der Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz. Kabbani nannte die mit dem Tagungsthema aufgegriffene „versöhnte Verschiedenheit“ in Bezug auf die Beziehung zwischen Christen und Muslimen in Europa als wünschenswertes Ziel. Nach Anschlägen wie jenen in Paris würden die Muslime allerdings stets „unter Generalverdacht gestellt“, sagte er.

Zu den wirtschaftlichen Brennpunkten in der Europa-Debatte nahm der Ökonom Stephan Schulmeister Stellung. Er ortete eine „schleichende europäische Desintegration“, die sich in den vergangenen zehn Jahren immer stärker ausgebreitet habe. „Der Neoliberalismus, der die Macht des Marktes über alles andere stellt, ist der größte Feind der Aufklärung“, so Schulmeister. Gehorche man weiter „blind“ dem neoliberalen Modell, stelle man auch die europäischen Werte in Frage.

Die weiterhin bestehenden Mentalitätsgrenzen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hinterfragte schließlich der Theologe und Publizist Cornelius Hell. Europa sei ein Vierteljahrhundert nach 1989 noch immer durch einen „gläsernen Vorhang“ geteilt. Dieser sei zwar grundsätzlich transparent, aber dennoch eine „unsichtbare Barriere“. Hell warnte vor diesem Hintergrund vor einem „Gleichmachen“ der ost- und westeuropäischen Staaten. „In Osteuropa werden Dinge, insbesondere aufgrund der vollkommen unterschiedlichen Geschichte, oftmals ganz anders interpretiert als im Westen“, sagte er. Hier fehle vielen westlichen Beobachtern ein Gespür und der Wille diese Unterschiede zu erkennen und zu respektieren.

Lendvai: Nationalismus gefährdet Europa

Schon zum Auftakt der KAVÖ-Herbsttagung hatte der Publizist Paul Lendvai am Freitag im Wiener „Haus der EU“ eine „tiefe“ Spaltung Europas beklagt und vor dem möglichen Zerfall der Europäischen Union durch das Wiedererstarken des Nationalismus gewarnt. Auch infolge der akuten Krisensituationen im Nahen und Mittleren Osten würden die zentrifugalen Kräfte nicht nur nicht eingedämmt, sondern verstärkt, sagte Lendvai. „Es herrscht Ratlosigkeit, und die Gefahr der Renationalisierung wird von Tag zu Tag größer.“ Europaparlaments-Vizepräsidentin Ulrike Lunacek verwies dazu beispielhaft auf die Flüchtlingskrise. Diese sei eigentlich „eine Krise der Solidarität und des mangelnden politischen Willens“.

religion.ORF.at/KAP

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