Zulehner-Appell über Flüchtlinge: „Entängstigt euch!“

„Entängstigt euch!“: Diesen „aktuellen Zwischenruf“ zum Thema Flucht und Migration äußert der Wiener Theologe und Werteforscher Paul M. Zulehner in seinem neuen Buch.

Er geht darin den Ängsten nach, die hinter abwehrenden Haltungen liegen, und zeigt Möglichkeiten auf, sie durch vertrauensbildende „Heilungsmaßnahmen“ zu überwinden. Wie Zulehner schreibt, gelte es angesichts der Migrationsströme nicht das „christliche Abendland“ zu bewahren, denn die kulturelle und religiöse Vielfalt sei unumkehrbar. Vielmehr sei „das Christliche im Abendland zu retten“. Mehr sei „als Ziel nicht realistisch“.

Christliche Prägung Europas

Dass Europa „fraglos durch das Christentum geprägt“ sei, ist für Zulehner unbestreitbar. Kirchen hätten bei Bildung, im Krankenhauswesen und vielen anderen gesellschaftlichen Errungenschaften die Vorhut gebildet. Dennoch habe sich nicht erst seit der Ankunft des Islam die weltanschauliche Landschaft Europas „verbuntet“.

Die christlichen Kirchen hätten europaweit zwar nach wie vor die meisten Mitglieder, aber es gäbe zunehmend mehr Angehörige anderer Religionen, dazu Menschen, die die Kirche verließen oder nie in einer waren. Der Wiener Pastoraltheologe äußert sich in diesem Zusammenhang „erstaunt, dass das christliche Abendland vor dem Islam gerettet werden soll, aber niemand danach ruft, dieses vor dem pragmatischen Atheismus so vieler und dem überzeugten Atheismus weniger zu retten“.

„Dialog der Religionen statt Abwehr des Islam“

Wenn Christen in Europa eine „Islamisierung Europas“ befürchteten, dann verdeutlichten sie damit „ihre eigene Glaubensschwäche“. Das Problem Europas sind nach den Worten Zulehners "nicht die kraftvoll gläubigen Muslime und Muslimas, die zu uns kommen und unter uns leben.

Das Problem sind die vielen schwach gläubigen Christinnen und Christen". Und: „Wer schwach ist, bekommt eher Angst.“ Das Christentum in Europa brauche keine Abwehr des Islam, sondern einen fundierten Dialog zwischen den Religionen: an den Universitäten, in Bildungseinrichtungen, im Religionsunterricht, „von denen einige die Religionsgemeinschaften am besten gleich zusammen verantworten“, wie Zulehner anregt.

Buchtipp:

Das im Patmos-Verlag erschienene, 168 Seiten umfassende Buch von Paul M. Zulehner „Entängstigt euch! Die Flüchtlinge und das christliche Abendland“ ist ab sofort um 13,40 Euro im Buchhandel erhältlich.

Für nicht zielführend hält der Theologe und vielfache Buchautor eine „Politik, die mit unchristlichen Mitteln das christliche Abendland retten will“. Dieses Programm führe lediglich zu einer weiteren Schwächung, „ja schädlichen Verfälschung des Christentums“ in Europa. Zulehner warnt: „Wer also das christliche Abendland mit unchristlichen Mitteln zu retten versucht, wird seinen Untergang beschleunigen.“ Nur eine christliche Realpolitik, die diesen Namen auch verdient, werde „das Christliche im Abendland“ retten.

Zuversicht, Sorge oder Abwehr

Zulehner baute in sein neues Buch viele Texte ein, die ihm die 3.000 Teilnehmenden an einer Online-Umfrage übermittelten. Er teilt diese je nach ihrer Haltung zu Flucht und Migration in drei Gruppen ein: jene, die der Zuwanderungsbewegung mit Zuversicht begegnen, jene, die mit Sorge - vor Überforderung oder zunehmender Polarisierung - reagieren, und jene, die letztlich angstmotiviert scharfe Abgrenzung fordern. „Die Kirche verkommt zum Spendenverein für Moslems“, äußert ein Mann etwa seine Frustration über einen vermeintlich naiven Helferkurs der Kirche. Zulehner dazu: Den Betreffenden dränge seine Angst vor den Flüchtlingen und der damit verbundenen politischen Entwicklung, das Christentum vom solidarischen Einsatz für die Flüchtlinge abzulösen.

Das Schlusswort gab Zulehner einer 1971 geborenen Frau, die ihm einen „berührenden Text“ mit hohem Mitgefühl zukommen ließ. Sie habe sich vorgestellt, dass das Leid der schutzsuchenden Kinder, Frauen, Männer und Alten auch das Leid der Einheimischen, dass „deren Schicksal zugleich unseres“ wäre. Und sie schrieb: „Wir möchten diese Menschen kennenlernen - auch in unserem Interesse - , um allen das Miteinander zu erleichtern.“

religion.ORF.at/KAP