Luthers Thesenanschlag: Alles nur ein Mythos?

Die Geschichte von Martin Luthers Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche ist zweifelsohne legendär. Aber ist sie auch wahr? Historiker und Theologen streiten seit Jahrzehnten darüber, ob dieses Ereignis je stattgefunden hat.

Der Mönch Martin Luther schreitet schnellen Schrittes zur Wittenberger Kirche, einen Hammer in der einen, ein Plakat in der anderen Hand. Er hämmert seine 95 Thesen an die Kirchentür. „Jeder Hammerschlag ein Sargnagel für das römisches Papsttum. Wer sonst nichts über Luther und seine Theologie weiß, dieses Bild kennt er“, kommentiert der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, in seinem Buch „Reformation - Die 95 wichtigsten Fragen“ das legendäre Bild, das von Luther gezeichnet wird.

Erste Zweifel

Zweifel an dem lange Zeit als unumstößliches Faktum geltenden Thesenanschlag wurden erstmals am 8. November 1961 laut. Ein katholischer Reformationshistoriker mit Namen Erwin Iserloh hielt in Mainz einen Vortrag, in dem er sich auf den evangelischen Reformationshistoriker Hans Volz berief, der in einer Studie das Datum des Thesenanschlags anzweifelte. Iserloh kam gar zu dem Schluss, dass es einen solchen gar nicht gegeben habe. Sein Vortrag war der Beginn einer heftigen Debatte über die Historizität des Thesenanschlags.

„Iserloh hat das später abgeschwächt“, sagte der Mainzer Kirchenhistoriker Wolfgang Breul zu religion.ORF.at. Iserloh erklärte später, der Thesenanschlag habe nur nicht am 31. Oktober stattgefunden. Schließlich gibt es Quellen, die Martin Luther mit den Worten „am Tage Allerheiligen, habe ich angefangen, zuerst gegen den Papst und die Ablässe zu schreiben.“ Der evangelische Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm klärte später auf, dass die Angabe Allerheiligen immer auch die Vigil, den Vorabend, mit einschließe.

Joseph Fiennes als Luther im bekannten Film "Luther" (2003). Er hämmert die Thesen an die Schlosskirche Wittenberg

ottfilm (UIP)

Joseph Fiennes im Film „Luther“ (2003) hämmert die Thesen an die Kirchentür

Brief an Erzbischof erhalten

Dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen zumindest einem kleinen Kreis von Menschen öffentlich machte, stehe mittlerweile außer Streit, wie Breul erklärte. Belegt ist, dass Luther an diesem Tag seine Thesen jedenfalls an den Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg schickte, der für den Ablass zugunsten der Peterskirche zuständig war, sowie an den Diözesanbischof von Brandenburg, Hieronymus Schulze, Luthers direkten geistlichen Dienstherrn.

Im Brief an den Erzbischof mahnt Luther, die Praxis des Ablasshandels (die Ersetzung der Buße durch Geld) zu überprüfen. Das Schreiben, dem die Thesen beigelegt waren, ist im Original erhalten. Die Thesen jedoch fehlen. Ob Luther am selben Tag seine Thesen auch an der Schlosskirche anbrachte, darüber herrscht keine Einigkeit. In unzähligen Publikationen gehen evangelische und katholische Theologen und Historiker dieser Frage nach und wägen die unterschiedlichen Quellen ab. Und die Quellenlage sei „kompliziert“, sagte Kirchenhistoriker Breul.

Luther „erzürnte“ und schlug Thesen an

Die bisher wichtigste Quelle für den Thesenanschlag sind die Angaben des Theologen Philipp Melanchthon, so Breul. Darin heißt es: Luther, „der vor Eifer für den Glauben brannte“, erzürnte wegen der „gottlosen und schändlichen Predigten“ des Dominikaners Tetzel und schlug die Thesen gegen den Ablass „öffentlich an der Kirche“ an. Doch Melanchthon berichtete ausführlich von einem Ereignis, das er selbst nicht gesehen haben kann. Er kam erst ein Jahr nach dem vermeintlichen Thesenanschlag nach Wittenberg. Zudem wurde der Text erst nach Luthers Tod 1546 geschrieben.

Von einem Thesenanschlag durch Luther an mehrere Kirchentüren schrieb ein Vertrauter des Reformators, Georg Rörer. Doch auch er war kein Augenzeuge. Er kam erst 1522 nach Wittenberg. Auch sind einige Historiker der Ansicht, dass Rörer sich in seinen Ausführungen auf die von Melanchthon bezog.

Was gegen die Erzählung spricht

Der Luther-Biograf Willi Winkler ist einer von vielen, die die Erzählung vom Thesenanschlag Luthers in Zweifel ziehen. RP Online sagte er im September: „Der Hammer ist in jedem Fall eine spätere Erfindung. Noch 1617, bei der ersten Hundertjahrfeier der Reformation, ist es eine schlichte Feder, mit der Luther an die Tür der Schlosskirche schreibt. Umso besser passen die wuchtigen Hammerschläge zum martialischen 19. Jahrhundert, aus dem auch die Tür stammt, die den Pilgern heute zur Glaubensstärkung vorgeführt wird.“

Tatsächlich spricht gegen einen Thesenanschlag, dass Luther nach derzeitigem Forschungsstand selbst nie davon gesprochen hat, die Thesen an der Kirchentür angebracht zu haben. Allerdings war das Anbringen von wissenschaftlichen Thesen an Kirchentüren zu der Zeit weder selten noch ein revolutionärer Akt. Angebracht wurden sie vom Pedell, dem Hausmeister der Universität - und zwar mit Leim oder Siegelwachs, nicht mit Hammer und Nägeln.

Experten zweifeln nicht zuletzt an einem Thesenanschlag am 31. Oktober, weil Luther kein Aufrührer sein wollte, sondern es ihm in erster Linie um eine Reform der Kirche ging, die er durch den Versand der Briefe anstoßen wollte. Mittlerweile, so Kirchenhistoriker Breul, gibt es viele katholische und evangelische Forscher, die aufgrund der Quellenlage zu dem Ergebnis kommen, dass Martin Luther die Thesen nicht am 31. Oktober, sondern später angebracht hat. Oder sie anbringen ließ. Was wirklich passiert ist? Auch Historiker wissen es nicht. Eigentlich nur eine kleine Unklarheit in der Reformationsgeschichte, könnte man meinen. Dennoch sorgt sie seit Jahrzehnten für Diskussionen.

Motiv der nationalen Sonderausstellung in Berlin, Eisenach und Wittenberg zum Reformationsjahr 2017

3xhammer.de

Motiv der deutschen Sonderausstellung zum Reformationsjahr 2017

Hammer als Symbol

„Die Geschichte vom Thesenanschlag ist natürlich eine, die viele Menschen in der Schule kennengelernt haben und die das Bild vom Beginn der Reformation mitgeprägt hat“, sagte der Bischof der evangelischen Kirche A.B. in Österreich, Michael Bünker, im Gespräch mit religion.ORF.at. Insofern sei es „ernüchternd“ gewesen, als durch die historische Forschung im 20. Jahrhundert „Zug um Zug nachgewiesen worden ist, dass der Thesenanschlag aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so stattgefunden hat“.

Trotzdem wird die Geschichte gerade auch im Zuge des Gedenkens an 500 Jahre Reformation weitererzählt. Die Forschungsergebnisse werden zum Teil außen vor gelassen, etwa wenn in Deutschland die drei großen Ausstellungen anlässlich des Reformationsjahres den Hammer als Symbol verwenden.

„Liebgewonnene Geschichte“

„Es ist einfach eine liebgewonnene Geschichte“, so Bischof Bünker. Doch seine Kirche wolle das Bild eines einsamen Mönchs, dessen Hammerschläge bis nach Rom zu hören waren, in dieser Form nicht weiter kommunizieren. „Aber ich werde auch nicht dagegen sein, wenn es da und dort den Kindern so erzählt wird. Ganz ausgeschlossen ist es ja nicht, nur nicht nachgewiesen“, sagte Bünker.

Michael Bünker

kathbild/Franz Josef Ruppprecht

Bischof Michael Bünker

„Selbst wenn es eine Legende sein sollte, haben doch Legenden einen tiefen Kern. Diese Hammerschläge werden als Fanal gesehen in der ganzen Welt“, so Margot Käßmann, Botschafterin für das Reformationsjubiläum des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu religion.ORF.at. Es gehe um Öffentlichkeit von Kritik am bestehenden System.

Es sei ohnehin nicht entscheidend, ob nun vier Nägel in eine Tür geschlagen wurden oder nicht, resümierte der evangelische Bischof Bünker. Denn klar sei: „Theologisch waren die Thesen Hammerschläge.“

Clara Akinyosoye, religion.ORF.at

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